1860
An diesem Tag sprach die Stimme seines Großvaters zu ihm. Darwin wusste, dass es nicht seine Idee gewesen war. Er sah eine Prozession, an deren Spitze Erasmus stand, Position einnehmend, kämpfend, eine Form erzeugend: Eine Prozession aus Magiern der Form. Es gibt nicht so ein Ding wie alleinige Urheberschaft, schien Wallace zu sagen. Malthus fasste ihm fast zärtlich an die Schulter. Wir sind eine Population, fügte er hinzu. Wie kann da etwas getrennt von etwas anderem sein? Wir kämpfen alle ums Überleben. Doch alle wussten, dass eben diese Population in einem grandiosen Akt der Verdrängung alles auf seine, Darwin´s, Schultern legen würde. Es ist nun einmal die Weise, wie wir uns die Zeit nutzbar machen, erklärte Erasmus, und deklamierte:
„Ruft um den Erdenkreis, wie Fortpflanzung sich erhebt
Den Tod besiegt - und Glück so ringsum überlebt;
Wie Leben wuchert ständig weit und breit,
Und Natur fortgebärend erobert selbst die Zeit.“
Darwin hatte, was das angeht, zehntausend Tage damit zugebracht, die Form in die Leere zu gießen. Er hatte diese Form genommen – woher? – und sie wie ein Steinmetz beschlagen. An ihrem Herzen pulsierte die Große Kette des Seins, pulsierte das Herz Aristoteles´, pulsierte die Zeit selbst. Er hatte sich diese Form zueigen gemacht. Aber es war nicht seine Form. Er hatte seinen Geist geöffnet, hatte die Form gesehen, sie in sich aufgesogen. Dann hatte er ihre Architektur verändert, aber nur unwesentlich. Darwin erkannte die gewaltigen Kräfte, die an ihm zogen und zerrten, geistige, gesellschaftliche und biologische Kräfte. Wer war er mehr als dies kleine Fähnchen im Wind? Hatte er überhaupt irgendetwas getan? Hatte nicht in Wirklichkeit die Form ihn verändert? Doch unschuldig war er nicht. Er sah seine Raummarkierungen und seine Veränderungen. Doch Darwin wusste: Die Geschichte der Form gehörte ihm nicht, noch irgendwem. Sie lebte ihr Eigenleben in einem Raum jenseits des Ich und Du, in einem Raum jenseits aller materiellen Form. Die Permutationen der Form in der Zeit, sie brauchte des menschlichen Willens und ist doch von ihm entkoppelt.
Und noch immer schien es nicht genug zu sein. Die Evolution war sich nun selbst bewusst geworden, hatte einen Selbst-Reflex entwickelt, bezog sich selbst in ihre Iterationen mit ein. Bezog ihn mit ein, und eine sublime Ekstase durchzog seinen Körper. Er war Evolution. Wie eine konzentrierte einzige Welle brach die Evolution selbst jetzt in diesem wertvollen, einzigartigen Moment in ihm hervor, und wie eine goldene Firniss legte sich die Form, die gegen alle anderen Formen und Zeiten über mehre tausend Jahre bestanden hatte nun über alles treiben und ficken, alles denken und tanzen. Sie wurde der Kaiser. Ihre Machte weitete sich bis zum Ende aller Tage aus.
Und umso älter die Menschen wurden durch die Macht der Form, umso tiefer verbeugten sie sich, atmeten das Blut der Zeit, lebte unter ihrer Doktrin. Würde jemals eine Zeit kommen, wo ein neuer Regent das Zepter ergreifen würde? … doch solange dies nicht passierte, würde jeder dem Kaiser dienen, ob er nun sein Buch gelesen hatte oder nicht. Denn sein Buch: Es war nicht so, dass er dort die Form präsentierte. Im Gegenteil. Die Form präsentierte das Buch. Die Form präsentierte eine Weise, um über sich selbst – und damit die Welt - nachzudenken. Denn die Form war auf seine Art eine Möglichkeit, um über sich selbst nachzudenken. Dies selbstreflexive Narrativ – es währte schon Jahrtausende, inaktiv, schlafend, und doch iterierend, einmal mehr, einmal mehr, bis es jeder, und zwar jeder verstanden hatte, und nicht nur die wissenschaftliche Zitadelle.
Irgendwann, so sann er nach, war ihm die Ähnlichkeit das Ausdrucksverhalten des Orang Utan mit dem Menschen aufgefallen. Das war, nachdem er seine ersten evolutionären Ideen, wie sich eine Spezies in eine andere verwandelt, im Red Book skizziert und die Verwandlungen der Macrauchenia in die Guanako bemerkt hatte. Doch was ihm wirklich schien, war auch nur eine Perspektive über die Dinge, offenbar eine, die nicht alle zu teilen schienen. Er war nicht der erste, die die Transmutationen beobachtete, noch war er der erste, die diese Perspektive anwandte, diese Art und Weise, die Dinge seiner Wahrnehmung, seiner Beobachtung miteinander zu verbinden. Alles schien sich ineinander zu weben, sich gemeinsam zu entwickeln, genauso, wie sich die Theorie vor seinen Augen bildete, die er von anderen entlehnt und verzerrt hatte. Wie das Pflanzen und Tierleben bestimme Familienbeziehungen aufwiesen, schien das die Theorie zu tun. Alles schien sich zu entwickeln, alles schien in eine offene Zukunft zu zeigen, unabhängig von Design Gottes. Wie konnte er diese Perspektive in Worte fassen. Diese Art und Weise, die Welt zu begreifen. Die Theorie, sie kam erst viel später. Da war etwas Tieferes am Werk, etwas, was die Theorie designte. Er war Gott. Er erzählte die Welt. Der Akt der Konstruktion einer Theorie setzt nimmer eine gewählte Perspektive voraus, etwas willkürliches. Es war auch anders möglich, dass hatte das dunkle Zeitalter gezeigt. Und doch schien er etwas über die Existenz selbst zu begreifen. Das, was wahr war, und dass, was willkürlich war, schien ein und dasselbe zu sein. Was für ein erschreckender Gedanke.
Wer ihm die Geschichte, wer ihm diese einzigartige Perspektive als erstes erzählt hatte, wer ihm als erstes ermöglicht hatte, diese Perspektive auf die Welt einzunehmen, daran erinnerte er sich nicht. Wahrscheinlich Erasmus. Je länger er darüber nachdachte, umso bedeutungsloser erschien ihm, was er getan hatte. Er wusste, dass die Menschen sich gerne die Geschichte des Großen Mannes erzählen, der allein und zielstrebigdie Welt verändert. Aber es ist nur eine Geschichte, etwas, um sich die Unschärfen und Komplexitäten dieser Welt einfach zu machen. Hinter jedem großen mann steht eine Prozession von Zuarbeitern, Ehefrauen, Helfern und Freunden, ohne die er nie hätte sein Werk vollbringen können. Doch so wie die Nandus nicht losgelöst von Raum und zeit und Entwicklung stehen können und eingebettet sind in einen größeren biologischen und geologischen Zusammenhang, so konnte auch eine Perspektive, eine Geschichte oder eine Theorie nicht losgelöst von allem anderen betrachtet werden. Der Mensch, er greift stets auf das zurück, was ihn ausmacht, was er gelernt hat. Selten, wenn überhaupt, erscheint ein vollkommen neuer Gedanke in der Welt. Und doch fangen wir die Geschichte vondem Großen Mann an zu glauben, richten uns daran aus.
Ja, es war sein Großvater gewesen, der manchmal gekommen war und ihm Geschichten und Gedichte erzählt hatte. Vielleicht ist alles, was man braucht, einen Großvater zu haben, der einem Geschichten vom Leben erzählt. Der Rest kommt von selbst. Ihm war klar, dass Evolution von jetzt an nicht mehr ohne den menschlichen Geist gedacht werden kann, der sie begreift. Der rapide Verkauf seiner Bücher schien das zu bestätigen. Die Evolution wurde sich selbst bewusst und schenkte sich selbst das Narrativ. Wenn ja, wie verhält es sich mit der Form, dem Narrativ der Evolution, die ihr Kind ist? Führt auch sie ein Eigenleben?