Die Evolution der Magie

Die Vermischung von Natur und Kultur

Wir alle haben schon von den drei universellen Kategorien der Natur, Kultur und des Selbst gehört. Doch was heute relativ leicht zuzurechnen ist – z.B. unser Körper als Teil der Natur, unsere Beziehungen und auch unser tradiertes Wissen als Teil der Kultur und unser Bewusstsein und Intuition als Teil unseres Selbst – war nicht immer so sauber voneinander getrennt. Das liegt vor allem deshalb, weil es sich bei diesen Bereichen – aus der Sicht des Individuums – zunächst erst mal um drei Kategorien handelt. Wie uns Piaget gezeigt hat, müssen Kinder solche Kategorien (im Allgemeinen) erst einmal entwickeln, um sich später ind er Welt zurechtzufinden; und wie wir aus der Medizin wissen,[1] können wir durch Gehirnschäden sogenannte Agnosien erfahren, die diese kognitiven Kategorien auch wieder auflösen, mit dem Resultat, dass Menschen z.B. keine Bewegung mehr beobachten können, oder keine Formen (und die damit einen Stuhl, der vor einer Tür steht, nicht mehr unterscheiden können), oder Gesichter, je nachdem, welche Hirnregion eine Schaden erlitten hat.[2]

Wie Habermas, Lévi-Strauss und andere mehrfach gezeigt haben, waren in der archaischen Vormoderne des Mensch-Seins zwei dieser drei existenziellen Erfahrungsbereiche des Menschen, nämlich Natur und Kultur, miteinander vermischt. Es herrschte noch keine klare Trennung vor, oder genauer gesagt: Der archaische Mensch hatte diese Kategorien noch nicht klar voneinander differenziert. „Der Mythos“, so Habermas, „erlaubt keine klare grundbegriffliche Differenzierung zwischen Dingen und Personen, zwischen Gegenständen, die manipuliert werden können, und Agenten, sprach- und handlungsfähigen Subjekten, denen wir Handlungen und sprachliche Äußerungen zurechnen. So ist es nur konsequent, wenn die magischen Praktiken die Unterscheidung zwischen teleologischen und kommunikativen handeln […] nicht kennen[3] Natur und Kultur wurden so auf eine Ebene projiziert und wird erst mit der Moderne und dem rationalistischen Weltbild vollständig getrennt.[4]

Diese Vermischung (oder mangelnde Differenzierung) führte so zu prä-rationalen magischen Praktiken, durch Veränderung der Sprachgewohnheit oder des Mythos Einfluss auf die Natur-Spähre des Menschen zu nehmen: Die piktografische und künstlerische Darstellung der erfolgreichen Jagd führt zum tatsächlichen Jagderfolg; die besonders elaborierte Lüge führt zur Heilung der Krankheit,[5] die besondere Deutung des Omens zu Heil und Unheil für das Individuum und seine Familie, Freunde und Feinde und der speziell gefertigte Talisman zur Beeinflussung des Wetters. Man sollte dabei nicht den Fehler machen, anzunehmen, dass solche Techniken, nur weil sie ‚prä-rational‘ sind, nicht ‚funktionieren‘. Das hieße, unser rationalistisches Weltbild, indem so etwas per definitionem nicht möglich ist, mit den archaischen Weltbildern zu verwechseln, die ihnen zugrunde zu liegen. Tatsächlich haben Anthopologen und Forscher wie Lévi-Strauss, Mircea Eliade[6] aber auch Systemtheoretiker wie Allan Combs[7] immer wieder darauf hingewiesen, dass solche magischen Praktiken, zu denen auch z.B. Telepathie, zählt, bei archaischen Gesellschaften eher die Regel als die Ausnahme waren. Sie sind möglich, nicht nur weil ihnen ein anderes Weltbild zugrunde liegt, sondern weil wir, wie ich unten zeigen werden, über den Kosmos letztendlich nichts anderes wissen als Weltbilder, die sich kontinuierlich verändern. Das heißt, wenn man Voodoo praktizieren will, reicht es nicht, die besonderen Techniken zu lernen; man muss vielmehr auf eine frühere Entwicklungsstufe und Weltbild zurückfallen und sich in einer Gemeinschaft von Menschen bewegen, die dieses prä-rationale Weltbild teilen (dies ist auch der Grund dafür, warum solche magischen Praktiken auch niemals in einem wissenschaftlich-rationalen Setting ‚funktionieren‘, also mit Menschen [z.B. „Wissenschaftlern“] die das rationale Weltbild haben). Ich werde weiter unten darauf zurückkommen.

Die Vermischung von Kultur und Selbst

Interessanterweise finden wir mit dem Aufkommen der Postmoderne eine ähnliche Vermengung zweier Existenzbereiche, nämlich von Kultur und Selbst. Sie entsteht zunächst mit der beginnenden Differenzierung der Kategorie des Selbst durch das Aufkommen der methodischen Psychologie und Spiritualität am Ende des 19ten Jahrhunderts, dem Beginn der Postmoderne. Mit jeder weiteren Unterscheidung nimmt die kategoriale Trennung von Kultur und Selbst zu, zunächst aber sind sie ähnlich vermengt wie die Kategorien Natur und Selbst beim archaischen Menschen.

Am einfachsten erkennt man die Vermischung (oder fehlende Differenzierung) daran, dass Menschen heute den oberflächlichen Bereich von Verhaltensweisen, den sie ‚Persönlichkeit‘ oder ‚Charakter‘ nennen – und zu denen auch ihre Gedanken, Gefühle, Stimmungen, ihr Selbstbild und Rollenverhaltensweisen, ganz besonders aber ihre Intentionen und ihr Wille zählen – zwar dem Bereich ihrer Psyche oder ihres ‚Selbst‘ zurechnen, dabei aber verkennen, dass dieses Selbstbild und dazugehrenden Verhaltensweisen und Gefühle und Meinungen ausschließlich sozial konditioniert ist. Mit anderen Worten: Sie rechnen ihre Persönlichkeit und Wertvorstellung dem (Bereich des) Selbst zu, obwohl er eigentlich dem Bereich der Kultur entspringt. Besonders deutlicher sieht man das an postmodern-pluralistischen Rollenkonzeptionen wie etwa dem Hipster, der Individualität ausdrücken soll, dabei aber in Wirklichkeit ein vollkommen sozial konditionierter Bereich von stereotypen Verhaltensweisen, Meinungen, Habitus und Kleidungscode darstellt, den alle kopieren (und damit der Idee der Individualität paradoxerweise zuwiderlaufen) und der massiv von der Mode-, Entertainment- und Werbeindustrie beworben wird.[8] Interessanterweise ist es nun stets auch eines der Ziele der Spiritualität und aufgeklärten Psychologie/Philosophie, das Individuum von diesem oberflächlichen Bereich von Verhaltensweisen, Werten, Stimmungen, Gedanken, Gefühlen und Meinungen zu befreien und zum wahren, authentischen Selbst (unique self) zu führen, welches tatsächlich dem Bereich des ‚Selbst‘ zugehört. Insofern ist es nicht weit hergeholt, die Spiritualität als ein Vehikel zu einer post-postmodernen Bewusstseinsstruktur zu verstehen, in der die Trennung von Kultur und Selbst vollständig ist.

Diese Vermischung von Kultur und Selbst kann als eines der grundlegendsten Probleme der Postmoderne betrachtet werden, da sie auch zu so merkwürdigen Phänomenen wie die schon so oft beschrieben performativen Widersprüchen führt, bei dem der (individuelle oder selbstbezogene) Sprechakt mit der (sozialen oder kulturellen) Aussage vermengt wird, wie z.B. „Alles ist relativ“ ( … wenn alles relativ ist, denn auch dieser Satz; das heißt es gibt Dinge die nicht relativ sind, im Gegensatz zur Aussage des Satzes). Das es sich dabei um mehr als Satzspiele handelt, hat Habermas deutlich gezeigt, und uns wird es auch ganz klar, wenn wir uns den Habitus (und mithin Ethik) mancher Postmoderner vor Augen halten, wenn sie implizit meinen: „Ich verabscheue jene, die nicht lieben“.

Eine weitere Verzerrung, die sich aufgrund der Vermischung (und nicht vollständigen Trennung) der beiden Bereiche Kultur und Selbst ergibt, wird in dem Allgemeinverständnis des Begriffs der ‚Intersubjektivität‘ deutlich, die gleichzeitig Teil der Kognition und des Sozialen sein soll (wie der Begriff auch schon andeutet). Kaum wird dabei berücksichtigt, dass jede ‚intersubjektive‘ Erfahrung, die wir haben (und damit jede menschliche Beziehung, die wir führen) vom Standpunkt des Bewusstseins tatsächlich nur eine kognitive Projektion sein kann, und zwar auf ähnliche Weise, wie uns unsere Erfahrung der Qualia,[9] also jener rudimentären Bewusstseinseinheiten verleitet, zu Projektionen auf die materielle Welt verleitet. Tatsächlich ist der Begriff der Intersubjektivität einer jener ‚Black Box‘-Begriffe, die auf etwas zeigen, was wir tatsächlich nicht wirklich erfahren können – obwohl es schwerlich zu leugnen ist, dass es Formen von Intersubjektivität gibt –, denn sobald wir behaupten, ein intersubjektives Phänomen zu beobachten, tun wir dies im Rahmen unserer eigenen Informationsverarbeitung und Kognition, bewegen uns also im psychischen (und nicht im sozialen) Raum.[10] Das heißt also nicht, dass es den sozialen Raum oder Formen der Intersubjektivität nicht gibt. Es heißt nur, dass wir schnell in eine Grube fallen, wenn wir von einem allgemeinen oder gefühlten Verständnis der Intersubjektivität ausgehen, wie es heutzutage häufig geschieht.

Dasselbe gilt auch für Modebegriffe wie ‚geteilte Erfahrung‘ [shared experience], die es eigentlich nicht geben kann, da Erfahrung ein psychologischer Begriff ist und sich die Erfahrung zweier Personen aufgrund ihrer Perspektive, ihrer Gefühle, Stimmungen, Gedanken Entwicklungsstufe, Kontext immer unterscheiden. Je genauer man hinschaut und die angeblich geteilte Erfahrung zweier Personen untersucht, umso mehr Unterschiede sieht man. Man kann indessen den Begriff der geteilten Erfahrung für grobe Kriterien verwenden wie etwa: Menschen teilen die Erfahrung der Existenz, des Sterbens, von Problemen und das lösen von Problem im Alltag, von Krankheiten etc., doch sobald man vom Abstrakten ins Konkrete versucht zu gehen, muss man erkennen, dass sich die jeweiligen Erfahrungen, wie jemand diese Dinge erfährt, vollkommen unterscheiden. Wie wir sehen werden, werden diese Dilemmas und Problem erst mit der vollständigen Differenzierung von Selbst und Kultur aufgehoben, und eine nicht unwesentliche Rolle spielt dabei die Magie.

Magie

Diese Vermischung und Differenzierung der drei Kategorien und Erfahrungsbereiche Natur, Kultur und Selbst bringt nun, ganz allgemein gesagt, spezielle (Geistes-) Technologien hervor; Technologien, die man auch ganz einfach ‚Magie‘ nennen könnte, wenn man auf das viel bemühte Zitat von Arthur C. Clarke zurückgreift: „Jede hinreichend fortgeschrittene Technologie ist von Magie nicht zu unterscheiden.“ Das heißt anders herum formuliert: Magisch ist jede hinreichend fortgeschrittene Technologie. Diese Definition reicht vollkommen, um auch die Evolution der Magie aufzuzeigen.

Es wird insofern vielleicht überraschen zu erfahren, das Zauberkräfte, magische Praktiken oder Shiddis, nicht zwangsläufig immer irr- oder prärational sind. Tatsächlich treten magische Praktiken oder Geistestechnologien mit jeder Entwicklungsstufe des Bewusstseins auf, und damit immer dann, wenn eine Entwicklungsstufen möglichen und Technologien ermöglicht, die für die darunter liegende Stufe unmöglich sind. Um die Natur dieser Praktiken zu verstehen, muss man zunächst einen Blick auf die Weltbilder selbst richten, und damit natürlich auf die Entwicklungsstufen des Bewusstseins.

Archaisches Weltbild und Magie

Ich hatte oben schon einiges über das magisch-mythische oder auch archaische Weltbild gesagt. Wie uns die Anthopologen gezeigt haben, existiert in den archaischen Gesellschaften kein kohärenter physikalischer, sondern mythologischer Gesamtzusammenhang der Weltdeutung, d.h. ein Netz von unterschiedlichen Geschichten und Beschreibungen, die sich von geografischem Standort zu Standort unterscheiden.[11] Wie Habermas hervorhebt: Nicht das Denken oder die Logik unterscheidet den archaischen vom modernen Menschen, sondern die Inhalte oder Begründungen,[12] und diese mythologischen Inhalte werden erst mit der Moderne durch die Physikalischen ersetzt. Mit einfachen Worten: Der archaische Mensch ist nicht ‚dumm‘ oder denkt anders als wir. Er begründet sein logisches Schließen genauso wie wir. Er geht nur von einem anderen Weltbild und damit Kontext aus.

Dementsprechend finden wir hier archaische Formen von magisch rituellen Praktiken, die sich lokal, wie auch die Mythen, unterschieden. Eine große Rolle spielt hier, ich sagte es schon, die Vermischung der Bereiche Natur und Kultur, was zu Phänomenen der Synchronizität führt. Nur aufgrund dieser Synchronizität oder Zufälligkeit kann der rituelle Akt oder die bildliche Darstellung der wirklichen Handlung vorausgehen: Wie etwa der bildlichen Darstellung der Jagd und der tatsächlichen Tötung des Wildes. Prärationale Magie heißt, sich in diesen Netzen der Synchronizität und Koinzidenz zu bewegen; das heißt also, dass nicht der sprachliche Akt einen ‚magischen‘ Einfluss auf das tatsächliche Ergebnis aufweist, sondern dass der sprachliche Akt nur dann getan wird, wenn das Ereignis auch eintreten kann. Man muss hier sehr aufpassen, nicht in eine modern-rationalen Kategorie und dem Schema Ursache/Wirkung abzugleiten. Man könnte also sagen: Der Schamane hat ein Gespür für diese synchronistischen Tänze, und je klarer seine Intuition, umso größer seine Macht.

Telepathie ‚funktioniert‘ ebenfalls durch diese synchronistische Zusammenhänge. Wie der Nobelpreisträger Thomas Schelling zeigen konnte, nutzen Menschen, wenn sie keine Möglichkeit der direkten Kommunikation haben, eine Technik, die in der „Erwartung einer Person, was der andere von ihm erwartet, dass er es erwartet, was erwartet wird, zu tun“ besteht.[13] Diese sogenannten Schelling Points (also einfach gesagt wenn die Erwartungsstrukturen zweier Personen konvergieren) treten aber auch ganz häufig in unserem Alltag auf, z.B. wenn wir mit unserem Partner oder Freund im Auto sitzen, eine bestimmte Kreuzung passieren, und beide an dasselbe denken (was sie auch überrascht ausdrücken). Je intimer und vertrauter man mit einer Person ist, umso häufiger treten auch diese Schelling Points auf, denn die Erwartungsstrukturen passen sich aneinander an.

Traditionelles Weltbild und Magie

 Aus der Vielzahl von örtlichen oder lokal-ansässigen Mythen erzeugt hier im Westen die traditionell-christliche Bewusstseinsstruktur (oder das blaue vMem [Spiral Dynamics]) vor knapp 2000 Jahren einen einheitlichen mystischen Erzählzusammenhang: Gott hat die Welt in 6 Tagen erschaffen, am 7 Tag ruhte er.[14] Dies ist die große Leistung des Christentums: Die unterschiedlichen Geschichten und Mythen in einem großen Mythos zu vereinen. Aus den Schamanen sind Priester geworden, doch ihre Macht ist ungleich größer. Sie verfügen über die magische Kraft der Absolution und des Seelenheils und die Fähigkeit, die Stämme, Klans, Landstriche und Länder unter ein mythisches Dogma zu stellen und zu integrieren. Die Funktion des Priesters ist ähnlich wie die des Schamanen: Nämlich den Zusammenhalt und die Gesundheit und die Zukunftsfähigkeit des Stammes zu gewährleisten. Und diese Funktion konnte vom Priester in einem viel größeren Ausmaß ausgeübt werden.

Bedingt dadurch, dass die vollständige Differenzierung von Natur und Kultur erst mit dem später auftauchenden modernen Weltbild eintritt, gilt in Bezug auf die Magie für dieses Zeitalter vieles, was auch für das archaische Zeitalter galt. Den bedeutendsten Unterschied kann man jedoch durch den Zusammenhang von Weltbild und Erlösungsvorstellung verdeutlichen. Wie Ken Wilber und Allan Combs deutlich gezeigt haben, hängt die Art, wie wir besondere (auch spirituelle) Zustände unseres Seins interpretieren und erfahren (grob/subtil/kausal/nondual), von dem Weltbild und den Erfahrungshorizont ab, den wir haben. Ein traditionell-christlicher Mensch wird eine kausale Erfahrung anders interpretieren als ein Postmoderner. Doch wir können diese Zustände auch als tatsächliche Existenzebenen betrachten,[15] zu denen wir Zugang finden; wir finden hier also eine Dichotomie von bewusstseinseigenen Zuständen und tatsächlichen Existenzebenen (wie auch die auch die materielle Welt eine tatsächliche Existenzebene ist), die gleichberechtigt nebeneinander steht.

Das heißt, das das Heilsversprechen, dass der Christ erfahren kann, eng mit der Funktion des Priesters verbunden ist. Das Seelenheil, was dieser verspricht, wirkt für den Christen real. Der Siegeszug des Christentums hier im Westen kommt also nicht von ungefähr; so wird deutlich, warum sich im Mittelalter die Frauen selbst als Hexen anzeigten, um ihre Seele zu retten und zu brennen.[16] Es entsprach ihrer unmittelbaren Erfahrung, das etwas unreines, ja teuflisches, von ihrem Sein Besitz ergriffen hatte, von dem sie sich zu läutern hofften. Auch hier dürfen wir nicht mit modernen-rationalen Kontexten solche Erfahrung entwerten.

Modernes Weltbild und Magie

Das christliche Weltbild, das Gott nicht nur die Welt erschaffen hat, sondern dass sie von ihm durchdrungen ist und das die Erde das Zentrum der Schöpfung ist, wurde mit der Aufklärung ersetzt durch das physikalisch-biologische Weltbild, indem sich das Universum, ausgehend von Urknall und durch bekannte und noch unbekannte physikalische Gesetzmäßigkeiten (wie etwa die Dunkelenergie) stets weiter ausbreitet. Die Macht dieses Weltbildes und der Physik übersteigt die der mythischen Weltbilder bei Weitem; jeder hat schon die Erfahrung gemacht, sich die Weite des Universums vorzustellen und seine eigene Stellung im unendlichen Kosmos zu verorten.

Weltbilder drücken sich stets, so konnte Korzybski zeigen, in unserer Sprache aus, und Relikte des alten, mystischen Weltbildes haben sich bekanntlich in unserer Sprache erhalten, wie etwa der Formulierung: „Die Sonne geht auf/unter“; sie macht in dem modernen Weltbild ja nicht mehr richtig Sinn; an solchen sprachlichen Verzerrungen kann man den Einfluss der Weltbilder gut bemerken. Und wer hat als Kind nicht die erschreckende Erfahrung gemacht, als er zum ersten Mal realisierte, dass sie Sonne tatsächlich auch in der Nacht scheint; hier spiegeln sich im Kleinen die Übergänge von dem einen mythischen ins rationale Weltbild.

Auch dieses Weltbild bringt seine ganz eigene Technologie, seine eigene Magie mit sich, nämlich in der Moderne die technologischen Errungenschaften an sich. Auf der anderen Seite sind es genau die technologischen Errungenschaften, die eine weitere Ausdifferenzierung des modernen Weltbildes über wissenschaftliche Theorie und Experiment möglich machen. Das geht soweit, wie es Carl Sagen formulierte, dass wir durch unsere wissenschaftliche Technik wieder „in den Bereich des Mythos vordringen“:

„Raumfahrt spricht etwas Tief in uns an, bei vielen von uns, wenn nicht allen. Eine wissenschaftliche Kollegin berichtet mir von einer Reise nach Neu Guinea, wo sie eine Steinzeitkultur besuchte, die kaum von der westlichen Zivilisation berührt worden ist. Sie kennen dort keine Armbanduhren, Erfrischungsgetränke oder Tiefkühlnahrung. Aber sie haben von Apollo 11 gehört. Sie wissen, dass Menschen auf dem Mond waren. Sie kennen die Namen von Armstrong, Aldrin und Collins. Sie wollten wissen, wer heute auf dem Mond spazieren geht.“

 Doch diese externen Errungenschaften sind nur ein Spiegel der Geistestechnologie, die mit der Aufklärung, mit besserer Bildung und eben einem rationalistischen Weltbild einhergeht. Den dieses Weltbild ermöglicht Disziplin, Konzentration, Lernen und Lernen des Lernens, Hingabe an ein Forschungsfeld und nicht zuletzt Logik und rein abstraktes Denken. Diese Geistestechnologie ist allen vorhergehenden Formen von Geistestechnologien (Magie) weit überlegen.

 Postmodernes Weltbild und Magie

Mit der Postmoderne trat plötzlich ein neuer Erzählzusammenhang und ein neues Weltbild auf, nämlich dass alle vorhergehenden Weltbilder sozial konstruiert sind. Es braucht Menschen und Gesellschaft, um überhaupt zu Weltbildern zu gelangen, es sind sozio-kulturelle Konzepte, die wir uns als Menschen zueigen machen können. Deutlich sieht man auch hier die Vermischung von Kultur und Selbst, und interessanterweise führt diese Vermischung zu neuen und starken Formen der Magie.

Eines der besten Beispiele postmoderner Magie ist sicherlich das Neuro-lingustische Programmieren, das als Blaupause für alle Formen von ‚Mentalprogrammierung‘ dienen kann. Ursprünglich als eine Metatherapieform gedacht, erkannten die Psychologen John Grinder und Richard Bandler jene Sprachmuster, durch die wir unsere Verhaltensweisen, Denkmuster, Gefühle und vor allem Beobachtungen von In- und Umwelt des Menschen nachhaltig verändern können,[17] also jene Sprachmuster, die die erfolgreichsten Psychotherapeuten mehr oder weniger intuitiv verwendeten. Durch das Aufdecken der ‚Fehlgeformtheiten‘ der Sprache verändern wir uns selbst. (Schopenhauers rhetorische Tricks sind übrigens im Wesentlichen deckungsgleich mit jenen Fehlgeformtheiten des NLP, dienen aber nicht dazu, sich selbst zu befreien, sondern um eine Diskussion zu gewinnen).

Die heutige Spiritualität, die zum Teil auch ihre Wurzeln in der hermetisch-magischen Orden des ausgehenden 19ten Jahrhunderts hat, basiert zu einem guten Teil darauf, dem Schüler durch Veränderung dieser Sprachmuster & Affirmationen zu einer Veränderung von Selbstbeobachtung und Verhaltensweisen zu bringen, man denke nur an Anweisungen wie „Be here now“, „Ich bin der Schöpfer meines Schicksals“, „I am Love, I am Light“ , „All is well, as it should be“ u.s.w. Ein Großteil spiritueller Seminare und Workshop dreht sich um die Deutung und sprachliche Implementierung solcher Affirmationen; selten wird der soziale und psychologische Mechanismus dieser Methode diskutiert; tatsächlich haben wir es hier aber mit einer besonderen Mentaltechnik zu tun, durch diese Affirmationen Selbst- und Weltbild zu verändern. Im Gegensatz zu der modernen Technik des abstrakten Denkens und den archaischen Techniken der Synchronizität verfügt diese Magie über wesentlich mehr Macht; denn wie es so schön heißt (und was selbst eine Affirmation ist): „Veränder erst dich selbst, bevor du die Welt verändern willst.“[18] Denn wie erwähnt ist es auch die Funktion der Spiritualität, dass sich das Individuum durch die Dekonstruktion und Neuerschaffung mittels soclher Affirmationen von dem Ego befreit und zu dem wahren, authentischen oder auch evolutionären (also sich stets verändernden und Entwickelnden) Selbst gelangt.

Post-postmodernesWeltbild und Magie

Mit dem post-postmodernen Weltbild wird dann die Differenzierung zwischen Kultur und Selbst vollständig, nämlich indem die gesamten kulturell tradierten Perspektiven und vor allem Weltbilder auf ein internes psychologisches Modell überführt und integriert werden können. Die vielen Perspektiven werden vereinigt, ob jetzt in Form Ken Wilber integraler Theorie oder anderen. Das post-postmoderne Weltbild besteht auch in der (Selbst-)Erkenntnis, dass sich Weltbilder entwickeln und quasi nebeneinanderstehen können. Unsere kognitive Vorstellung von der Welt, ihre Entwicklung, soziale Tradierung und das Konzept eines realen Universums (was wir an sich nur schwerlich wahrnehmen können) stehen so als Ganzes nebeneinander.

Damit geht auch eine neue Form von Magie einher, die in den hermetischen Systemen als ‚die Vision der Harmonie der Dinge‘ bekannt ist: Zu erkennen, wie alles – alle Weltsichten, Perspektiven und Entwicklungsstufen – zusammengehört, sich ergänzt und vor allem: wie sie sich entwickeln.

Für das Individuum, welches diese mächtige Vision erfährt, verändert sich das eigene Leben grundlegend. Hier hat es das erste Ziel der Spiritualität erreicht; es ist zum ersten Mal ‚at home in the Universe‘, hat seinen Sinn gefunden, weiß woher es kommt, und noch bedeutender: wohin es geht. Es hat jenen oberflächlichen Bereich von Verhaltensweisen abgelegt, von dem es vorher dachte, es sei seine Persönlichkeit, sein Ego, sein Wille, seine Besonderheit. Mit dieser Freiheit ist das Individuum endlich fähig zu tun, was es will, ohne von den Limitationen des Egos – Ängste, Sorgen, Zweifel – gehindert zu werden. Es erreicht daher Dinge und ist zu Unternehmungen fähig, die ein weniger entwickeltes Individuum, welches in einem ständigen Konflikt mit den Blockaden und Maniriertheiten seines Egos liegt, niemals erreichen kann. Es verfügt über eine fortgeschrittene Geistestechnologie, mithin Magie, die es zum Wohle von allen einsetzen kann, und es handelt stets in Übereinstimmung mit der Evolution und Entwicklung aller (sich selbst eingeschlossen). Streng genommen ist auch dies noch eine magische Fähigkeit zweiter Ordnung. Die wahren Siddhies, (die magischen Kräfte erster Ordnung) treten erst mit der nächsten Stufe der Entwicklung auf.

Siddhis

Sogenannte Siddhis treten auf, wenn das Individuum fähig ist, seine Weltbilder grundlegend abzulegen und wenn es volle Erleuchtung erlangt hat. Im tantrischen Buddhismus bezieht der Begriff ‚Siddhis‘ ursprünglich auf magische Fähigkeiten, sind aber tatsächlich exoterische Beschreibungen von z.B. Meditationserfahrungen und besonderer Phänomene; ich nutze den Begriff insofern in einer leicht anderen Form.

Im Vergleich dazu ist selbst das post-postmodernen Individuum noch an die Funktion und Faktizität der Weltbilder gebunden. Momente der Leere und Non-Dualität können zwar erreicht werden, aber die Fähigkeit, den Maschinenraum der Psyche wirklich langfristig abzuschalten zu können, liegt noch nicht vor. Es geht hier freilich um solche Phasen wie die Dunkle Nacht der Seele, das schwarze Beinahe-Erlangen oder auch samadhi-nirvikalpa, bei der die „Geistestätigkeit in der Meditation tatsächlich über lange Zeiträume endet“,[19] und damit alle Kontexte, Konzepte und alle Weltbilder zum Erliegen kommen, wie auch jener Dämon, der für endlose chatter und Hintergrundrauschen des Geistes verantwortlich ist. Das heißt auch, dass auch Konzepte und Kategorien wie hell und dunkel, oben und unten, Körper und ‚Ich‘ usw. abgelegt werden können. Mit dieser Form der Freiheit gehen auch eine bestimmte Form von Fähigkeiten einher, die man magische Kräfte ersten Ranges nennen könnte.

Eine einfach Analogie für diese Siddhis ersten Ranges findet man beim morgendlichen Aufwachen. Jeder mag es schon einmal erlebt haben, wie der erste Gedanke, den man morgens dachte, den Ton für den ganzen folgenden Tag bestimmt hat. Auf eine ähnliche Weise ist der erste Gedanke, den man hat, nachdem man das samadhi nirvikalpa verlässt, ähnlich bestimmend, nur ungleich gravierender. Aus diesem Grund zeigt ist auch luzides Träumen oder Zeugenbewusstheit in Tiefschlafphasen von Bedeutung, denn sie sind ein Indikator darauf, ob der Maschinenraum des Geistes tatsächlich und vollständig unter Kontrolle des Steuermanns ist.

Fazit

Man sieht darin, ich sagte es schon, wie Weltbilder immer eine Form der Magie erzeugen, also eine Technologie, die durch die Grenzen und Eigenschaften des Weltbildes und den entsprechenden soziokulturellen und psychologischen definiert wird. Magie ist nicht zwangsläufig prä-rational; es gibt auch rationale und transrationale Formen von Magie, oder besser gesagt ‚Geistestechnologien“. Sie werden komplexer und in gewisser Hinsicht mächtiger mit jeder Entwicklungsstufe des Bewusstseins.

 

[1] Wir springen kurz in Oberen Rechten Quadranten Wilbers AQAL Modells.

[2] Vgl. http://en.wikipedia.org/wiki/Agnosia

[3] Habermas, Theorie des kommunikativen Handelns. S 81

[4] A.a.O. S 79

[5] Lévi-Strauss, Strukturale Anthopologie I, S. 184.

[6] Vgl. Mircea Eliade, Yoga

[7] Vgl. Allan Combs, Die Psychologie des menschliche Bewusstseins.

[8] Dies gilt für alle sozial angebotenen Rollenkonzeptionen.

[9] Vgl. Thomas Nagel: What is it like to be a bat?

[10] Dementsprechend gibt es auch kein ‚soziales Bewusstsein‘, wie viele New Age Fans behaupten.

[11] A.a.O., S. 76

[12] A.a.O. S. 74

[13] Schelling, Thomas, The Strategy of conflict, S.57

[14] Spiral Dynamics argumentiert hier allgemeiner und besagt, dass das „Blaue vMem“ etwa 3000 Jahre v. Chr. Aufgetaucht ist. Ich beziehe mich hier explizit auf das Auftauchen des christlichen Mythos.

[15] Vgl Allan Combs, Consciousness explained better, S 98.

[16] Vgl. Joseph Campbell, Schöpferische Mythologie

[17] Vgl. Grinder/Bandler, Die Struktur der Magie.

[18] Eine Affirmation von Gandhi.

[19] Vgl. Mircea Eliade, Yoga.

Tom AmarqueComment