Narratives Bewusstsein
Wir sind übende Lebewesen; jeden Moment 'arbeiten' wir daran, die Bedingungen zu verbessern, um beim nächsten Mal ein Stück weiter zu kommen --- ganz generell betrachtet, und egal, was wir tun. Wir haben diverse pädagogische, psychologische, athletische, amouröse und spirituelle Übungs- und Lebenpraxen entwickelt, um uns zu entwickeln, und wahrscheinlich unterscheiden wir uns alle nur in dem Maße, wie konsequent wir dieses ('autopoietisch' genannte) Prinzip des Geistes auf unser Leben anwenden.
Sloterdijk beschäftigte sich vor allem vor dem soziokulturellen Aspekt dieses Übens, und nannte es "Anthropotechnik". In Entwicklung als Passion untersuchte ich dieses Zusammenhang aus einer rein psychologischen Perspektive, und entwarf die 'Daimonotechnik', die darin besteht, dieses Prinzip der Psyche auf die Formung der Psyche selbst anzuwenden. In dieser Hinsicht spielt der Wille eine entscheidende Rolle, denn in ihm drückt sich aus, wie umfänglich wir mit unserem Willen dieses Üben tatsächlich umsetzen (können). Entsprechend der Entwicklungsstufen des Geistes beschrieb ich hier acht Stufen des Willens - vom Einfachen zum Komplexen - die eben auch darin bestehen, wie bewusst diese Autopoiese des Geistes selbst angewendet werden kann.
Es ist nun klar, dass man im Laufe des Übens am Leben irgendwann zu dem Punkt kommt und erkennt, dass Üben und Entwicklung auch davon mit abhängt, welche Narrative, welche Storys und Geschichten man selbst wählt. Damit meine ich einerseits so einfach Storys und Narrative, wie sie etwa um das Narrativ der Monogamie vernestet sind: Wir können, um ein einfaches Beispiel zu wählen, auf das ‚Fremdgehen‘ unseres Partners wütend reagieren, wir können uns daran erfreuen, wir können rational herangehen und die monogame Beziehungsformen dekonstruieren, wir können das ‚Fremdgehen‘ selbst dekonstruieren und als ‚normales Verhalten‘ deuten, wir mögen eifersüchtig sein, wir können psychologisieren oder wir können das Ereignis ganz und gar ignorieren. Nichts und niemand zwingt uns, mit einem bestimmten kognitiven Muster, Schema oder sozialem Verhalten auf das amouröse Interesse des Partners am Anderen zu reagieren. Wir bestimmen das selbst, und zwar durch die Narrative, die wir wählen; also die Art und Weise, wie wir solche Ereignisse für uns sinnhaft einbinden.
Solche Narrative, durch die wir unser Handeln, aber auch unser Erleben strukturieren, können aber auch so komplexe Narrative sein wie die Vorstellung von Entwicklung und Evolution selbst sein. Wir nutzen solche Narrative, um uns selbst zu ordnen, um Sinn zu formen in der Welt, in der wir leben, um Ereignisse zu deuten und uns für die Zukunft auszurichten, ja um überhaupt einen Zukunftshorizont zu haben. Vor allem aber, um uns gegen das Dunkle, die Unbestimmtheit, die Leere abzugrenzen, die uns durchdringt und umfasst.
Diese Narrative haben insofern erst mal wenig mit wissenschaftlichen Daten zu tun, sondern vielmehr mit unser psychischen Grundkonstitution, eben uns die Welt durch Geschichten begreifbar zu machen. Und in dieser Hinsicht können wir die Freiheit entwickeln, frei mit unseren persönlichen Narrativen umzugehen, um unsere Entwicklung voranzutreiben ...