Also, sprach der Mystagoge (Fortsetzung)

Also, sprach der Mystagoge: „Beginnen wir beim Anfang. Bist Du bereit, alles infrage zu stellen? Denn nur so kommen wir zu einem Ende!“

Student: „Ich will bereit sein!“

Mystagoge: „Nun gut, für den Anfang mag das genügen! Also wisse zunächst, dass die Welt aus magischen Systemen besteht, aus Symbolsystemen“.

Student: „Ich lernte dies schon an der Universität! Es nennt sich Postmoderne.“

Mystagoge: „Und doch hast Du es noch nicht vollständig begriffen, ansonsten sprächest Du nicht mit mir, ansonsten würdest Du nicht suchen, ansonsten hättest Du die intime Unzufriedenheit erlöst, die Dich bewegt.“

Student: „Das mag sein.“

Mystagoge: „Soziologie und Philosophie sind solche symbolischen Systeme. Aber ihre vortrefflichste Eigenschaft ist, dass sie magisch sind.“

Student: „Ist die Magie nicht ein vorrationales, ein abergläubisches System?“

Mystagoge: „Wissenschaft an sich ist ein magisches System.“

Student: „Wieso?“

Mystagoge: „Weil sie Phänomene ordnet und strukturiert, weil sie Erfahrungen eines bestimmten Typs möglich und andere unmöglich macht und weil sie Dir vorgaukelt, die Welt sei so, wie sie in ihrer Reduktion und Darstellung erscheint.“

Student: „Das stimmt nicht. Wissenschaft versucht die Welt zu beschreiben, wie sie ist.“

Mystagoge: „HAHAHAHA --- das ist ihre Magie, dass Du dies glaubst!“

Student: „Das überzeugt mich nicht!“

Mystagoge: „Wissenschaft existiert nur in einem Bereich der Symbole und symbolischen Kommunikation. Als solche macht sie einen großen Teil dessen aus, was wir heute als unsere gesellschaftliche Realität anerkennen. Es ist ein magisches System, dass sich gegenüber anderen Erkenntnisarten und Wahrnehmungen immunisiert hat und die von ihr invozierte Realität als die einzig Gültige verkauft. Und an einem gewissen Punkt entscheidest Du Dich, den Prämissen und der Weltsicht der wissenschaftlich modernen Denkweise Folge zu leisten. Dies ist aber ein willkürlicher Akt!“

Student: „Ich verstehe immer noch nicht, was Du meinst!“

Mystagoge: „In deiner wissenschaftlich geprägten Weltauffassung ist es so, dass Du als Sohn Deiner Eltern geboren wurdest. Ihre Gene stellen den Bausatz zu der Architektur Deines Körpers dar. Aufgrund Deiner neurologischen Architektur und sozialen Einflüssen entwickelte sich Dein Bewusstsein auf eine bestimmte Art, ähnlich genug, um Dich als Mitglied Deiner Familie und Kultur identifizieren zu können und verschieden genug, dass Du Deine Erfahrungen als Dir zugehörig anerkennen kannst. Wenn Du stirbst, gehen diese subjektiven Erfahrungen verloren. Was dann von Dir bleibt, sind weltliche und soziale Zeichen, die den folgenden Generationen zeigen können, dass Du gelebt hast. So wie Du jetzt von den Zeichen der Verstorbenen – seien es große Werke oder die einfachen Werke des Maurers, der diese Wand vor 50 Jahren erschuf – umgeben bist. Und doch … “

Student: „Und doch?“

Mystagoge: „Und doch gibt es da eine Realität und Phänomene, die nicht von dem magischen System der Wissenschaft erklärt werden kann ... oder will.“

Student: „Als da wären?“

Mystagoge: „Das deine subjektive Innenseite – Deine Selbstempfindung als Ich - nicht Dir gehört. Und dass sie nicht verloren geht, wenn Du stirbst. Vielmehr wird sie verteilt, neu integriert und erfahren, akkumuliert sich mit anderen Innenseiten, zersetzt sich, und geht doch niemals verloren. Wo immer ein Kunstwerk eines alten Meisters ist, so ist da auch immer die subjektive Innenseite des Künstlers. Diese geht nie verloren, und kann als neue Ich-Erfahrung von anderen Menschen neu gelebt werden, von anderen Menschen, die sich neu erfahren. “

Student: „Wie bitte?“

Mystagoge: „Ich sage es ja: Du musst Deine Vorannahmen über die Welt infrage stellen, wenn Du zu einem Ende kommen willst.“

Student: „Du sprichst über Reinkarnation!“

Mystagoge : „Nein. Religion, Hinduismus und Spiritualität sind mächtige magisches Systeme. Reinkarnation ist auch nur der Teufel in der Gestalt der Form. Der Trick liegt darin, zu versuchen, für einen Moment alle magischen Systeme, alle Symbolsysteme abzusetzen.“

Student: „Du meinst die Erkenntnis der Postmoderne, dass es keine Wahrheit gibt, oder Wahrheit ein symbolisches Konzept ist und wir nicht über eine objektive Welt sprechen können?“

Mystagoge: „Geh einen Schritt noch weiter. Unsere gesellschaftliche Realität ist das Resultat aller in sich vernesteten magischen Systeme --- Politik, Kunst, Erziehung, Wissenschaft, Religion, Spiritualität. Was bleibt, wenn Du die Immunisierungsstrategien dieser Systeme ausschaltest, wenn Du für einen Moment ihre Magie brichst.

Student: „Da ist dann nichts!“

Mystagoge: „Exakt. Du trittst dann ins Unbestimmte ein, in die Dunkelheit. Die Leere.“

Student: „Du meinst Shunjata!“

Mystagoge: „Ah, da ist er wieder, der Teufel der Form. Hinfort!“

Student: „------“

Mystagoge: „Was ist der Tod?“

Student: „Wenn mein Körper stirbt. Wenn mein Geist verlöscht?!“

Mystagoge: „Da ist er wieder, der Teufel der Form. Hinfort!“

Student: „Ich weiß es nicht.“

Mystagoge: „Gut. Was Dir bislang niemand gesagt hat ist, dass die Weltsichten, die eine Kultur bietet, auch immer verschiedene Weisen sind, nicht nur mit dem Unbestimmten, sondern auch mit dem Tod umzugehen. Dies sind die magischen Systeme. Sie erzeugen Sicherheit. Für gewöhnlich mögen wir die Leute nicht, die sich für andere Weltsichten entscheiden, denn wir sehen dann, dass unsere Weise, uns gegen den Tod zu schützen, nur ein schlechter Versuch ist.“

Student: „Aber sagtest Du nicht, dass das Subjektive nie verloren geht?“

Mystagoge: „Vielleicht habe ich gelogen. Vielleicht musst Du es selbst ausfinden.“

Student: „Aber ist das nicht wieder wissenschaftliche Vorgehensweise? Ist nicht auch dies auch der Teufel in der Form?“

Mystagoge: „Gut gemacht! Jetzt musst Du nur noch lernen, vom Verstehen zu Begreifen zu kommen.“

Student: „Was meinst Du damit?“

Mystagoge: „Dass Du der Unbestimmbarkeit, die der Tod ist, in jedem Moment Deines Lebens mit offenem Herzen bezeugen und bewahren kannst. Denn dies ist die intime Unzufriedenheit, die Dich antreibt: Womöglich zu wissen, aber noch nicht zu sein. Denn du bist noch an die magischen Systeme dieser Welt gebunden.

 

Tom AmarqueComment