Was ist ein Narrativ?

Ein Narrativ ist eine Form zwischen Subjektivität und Intersubjektivität sowie zwischen Formlosigkeit und Weltform.

Denkfigur 1: Das Narrativ

Als Form zwischen Subjektivität und Intersubjektivität bestimmt das Narrativ unseren inhaltlichen Zugang zur Welt, d. h. mit welchen bewussten und unbewussten Erzählungen wir unser Leben gestalten, seien es Mythen und Märchen, seien es Lebenspläne und Skripte, seien es Paradigmen oder Archetypen.  Durch Narrative erzeugen wir nicht nur unser Selbst- und Weltverständnis, sondern auch unseren Lebenssinn Narrative informieren Weltsichten und Philosophien, und bestimmen, welche Philosophien für unser Leben übernehmen. Als wen wir uns selbst erzählen, wie wir uns andere erzählen, welchen Lebenssinn wir wählen, welche Ereignisse und Phänomene wir auf welche Weise sinnhaft einbinden, ja selbst, welche wissenschaftlichen Forschungsprojekte wir wählen und welche Ergebnisse wir erwarten, hängt von den Narrativen ab, die wir wählen. Durch sie kommen wir zu bestimmten Weltentwürfen. Der grundlegende Modus, uns die Welt sprachlich zu erschließen, ist die erzählerische Form, und diese wird immer intersubjektiv tradiert. Wenn das Narrativ Teil des Subjektiven ist, ist es gleichzeitig auch immer Teil des Intersubjektiven. Das eine kann nicht ohne das andere gedacht werden. Nur durch Sprache und Kultur werden die Inhalten tradiert, die Teil unseres Bewusstseins sind.

Als Form zwischen Formlosigkeit und Weltform (kurz: Form) bestimmt das Narrativ unseren formalen Zugang zur Welt, wie wir aus der Formlosigkeit und dem Unbestimmten heraus in die Welt treten und sie als eine Weltform bestimmten Typs gestalten. In dieser Hinsicht sind Narrative die erste Form, die wir an der Formlosigkeit formen – oder die wir erzeugen, wenn wir aus der Formlosigkeit heraustreten – und die strukturgebend für alle weitere Formen, die wir sukzessiv erzeugen, wirkt. Narrative liegen ‚am Rand des Chaos‘ und sind kognitive Formen, die die weiteren Formen unserer Träume und unseres geistigen Alltagsbewussteins erzeugen. Das heißt auch: Ändern wir zu jedem gegebenen Zeitpunkt die Narrative, ändern wir den Gehalt unseres Bewusstseins zu jedem möglichen Zeitpunkt, und damit auch unsere Perspektiven und Weltsichten. Als Form zwischen Formlosigkeit und Weltform sagt das Narrativ zudem etwas über unsere Position in dem Spektrum der Bewusstseinszustände aus.

In diesem Sinne können wir Narrative als die Wurzel unseres kognitiven als auch unseres intersubjektiven Erlebens verstehen.

Die Funktion eines Narrativs liegt immer darin, uns in inhaltlicher Hinsicht gegenüber anderen Narrativen, in formaler Hinsicht gegen das ANDERE – sei es das phänomenologisch Unbestimmte, die Formlosigkeit, das Nichts und der Tod – zu immunisieren. Wir erfahren dies als Meinungen, Glaubenssätze, Überzeugungen, Weltsichten und Lebenssinn. Natürlich versuchen wir, unsere Narrative ,Glaubenssätze, Überzeugungen und Weltsichten zu verteidigen, den ohne sie stehem wir nackt der Leere gegenüber.

Die Funktion eines narrativen Bewusstseins liegt einzig und allein darin,

a) die den eigenen Meinungen, Glaubenssätze, Überzeugungen und Weltsichten zugrunde liegenden Narrative aufzudecken – die Identifikation mit diesen Narrativen zu lösen -

b) um für einen Moment in die Unbestimmtheit treten und mit dieser Freiheit selbstbestimmt die Weltform aufs Neue gestalten zu können.

Diese Form des Narrativs ist in sich widerspruchsfrei, denn es ist selbst ein Narrativ:

Denkfigur 2: Das Narrativ des Narratives

 Der hinzugefügte Rahmen identifiziert die Kongruenz von Form und Inhalt des Narrativs. Performative Widersprüche postmoderner Theorie-/Modellbildung (z. B. kann die Aussage ‚Alles ist relativ‘ nicht auf die Aussage selbst angewendet werden) wurden überwunden.

 

Tom AmarqueComment