Spiritualität und Sex
Moderne Spiritualität hat ein gespaltenes Verhältnis zur Sexualität. Es macht dabei keinen Unterschied, ob es sich dabei um New-Age-Esoterik auf der einen Seite des Spektrums oder Integrale Spiritualität auf der anderen Seite handelt. Tatsächlich ist die Integrale Spiritualität - basierend auf der Arbeit des Philosophen Ken Wilber und unterfüttert von diversen komplexen psychologischen Modellen - noch weitaus schlimmer dran. Da aber die integrale Theorie – und die Integrale Spiritualität - die auf ihr basiert, eines der komplexesten und fortschrittlichsten Modell über menschliche Entwicklung ist, möchte ich sie als Referenzmodell wählen, und zwar gerade weil es ein so ausdifferenziertes Modell ist. Die Ergebnisse sind jedoch überall ableitbar.
Meine Überlegungen basieren auch auf den Arbeiten von Max Weber, Michel Foucault und Thaddeus Russell – nur damit der Leser weiß, aus welcher ‚Richtung‘ ich komme – und lassen sich am einfachsten beschreiben durch die Erkenntnis, dass Demokratie, Kapitalismus und Industrialisierung nicht ohne Unterdrückung des Animalischen und des Sexus funktionieren können. Jeder dieser Entwicklungen der ‚Moderne‘ erfordern strenge Selbstdisziplin vom individuellen ‚Bürger‘, durch die die externen Kontrollen durch einen Monarchen durch individuelle Selbstkontrolle (im demokratisch-kapitalistischem Staat) ersetzt werden. Gleichzeitig wird ein lutherisches Ideal reaktiviert: Arbeite viel und hart, unterdrücke alle Freuden, forme eine Kernfamilie und habe abgesehen vom monogamen Partner keinen Sex. Einfach gesagt: Um 8-12 Stunden täglich arbeiten zu können, muss man die natürlichen Impulse des Körpers unterdrücken …
Unsere Gesellschaft befindet sich seit der Zeit Luthers und des protestantischen Puritanismus in diesem Spannungsfeld zwischen Lust und Selbstdisziplin oder, um es salop zu sagen, zwischen den Idealen der Hochgeistigkeit des Akademikers einerseits und der physischen Leuchtkraft eines, sagen wir mal: Surfers auf der anderen Seite. (Wir können selbst den Faschismus Deutschlands, wie es Wilhelm Reich getan hat, in diesem Spannungsfeld zwischen Lust und Disziplin betrachten.) Wie jeder weiß, der Ken Wilber auch nur rudimentär gelesen hat, kann nun eine neue Entwicklungsstufe des Geistes oder der Kultur nicht auftauchen, ohne die Alte irgendwie zu integrieren. Und das heißt, dass unsere Wurzeln auch heute noch in protestantischen Narrativen und Vorstellungen von Arbeit, Monogamie, Sexunterdrückung liegen.
Um beispielsweise Alice Schwarzers reaktionären, männerfeindlichen (radikalen) Feminismus zu verstehen, muss man wissen, dass ihre feministischen Vorkämpfer im Amerika des frühen 20. Jahrhunderts paradoxerweise dafür einstanden, dass sich die Frau ‚anständig‘ verhalten sollten; sie versuchten explizit, die Libido von Frauen zu unterdrücken! Auch wird im Feminismus deutscher Fasson gerne die Tatsache verschwiegen, dass die ersten Frauen, die im 19.ten Jahrhundert für ihre Rechte eintraten, und die sich – in einer Zeit, in der sich die Frau schlicht und zurückhaltend verhalten sollten - schminkten, die rauchten und farbenfrohe Kleider trugen, die allein auf die Straße gingen und für sich selbst einstanden … Prostituierte waren. Feminismus in seiner heutigen Form ist ohne Prostitution nicht denkbar. (Soviel zur Kulturdeutung Webers, Foucaults und Russells.)
Tatsächlich, und dieser Gedanke ist nicht weit hergeholt, leidet auch die Spiritualität unter diesem Spannungsfeld von Lust vs. Selbstdisziplin. Wie sollte es auch anders sein; sie entstand doch auf demselben kulturellen Nährboden! Man sieht das besonders in der Debatte um Gurus und spirituelle Meister, die – die zu Recht oder zu Unrecht – durch Sex-Skandale zu Fall gebracht werden. Warum, so muss man sich hier doch fragen, verfallen die Gurus hier regelmäßig ihren ‚niederen‘ Instinkten? (warum 'nieder'?) Warum entwickelt sich kulturell überhaupt ein sexueller victim-chic, der auch und vor allem dann Inkrafttreten kann, wenn gar kein Missbrauch vorlag? Und warum ist dies ganze Sex-Thema eigentlich so von Bedeutung, warum steht das sexuelle unter so starker Beobachtung? Ist das dahinter liegende Narrativ etwa dies, dass jemand, der über höhere geistige Entwicklungsstufen verfügt, auch eine vollkommenere Kontrolle über seinen Sexus hat? Und wenn ja, ist dies Narrativ überhaupt erstrebenswert oder auch nur funktional?
Die Frage, die ich hier aufwerfe, ist also keine, die eine philosophische Theorie oder gar Personen diskutiert. Ich frage hier nach der Ethik, die in unser Verhalten und unsere Normen eingebettet ist und die unseren Umgang - zum Beispiel mit Sexualität - bestimmt. Mit anderen Worten: Welche Sexualpolitik wird mit den unterschiedlichen Spielarten der Spiritualität mitgeliefert? Und ich behaupte, dass diese Sexualpolitk (und damti zusammenhängend auch Beziehungspolitk) von einer traditionellen prostetantischen Ethik mitbestimmt wird.
Das ganze Problem der dieser Ethik liegt freilich daran, dass sie stets versucht hat ‚das Animalische‘ oder den ‚Sexus‘ zu unterdrücken oder zu kontrollieren kann, sei es durch Gesetzgebung, sei es durch Normen, die Arbeit und Monogamie affimieren, sei es durch die diversen Übungssysteme, die Gesellschaft bereitstellt, um das große Selbstdisziplinierungsprojekt voranzutreiben.
Und es istgenau das, was die Spiritualität aufs Neue versucht oder nahelegt. Und genau deshalb stört sie sich so daran, wenn einer Ihrer Meister an diesem Projekt scheitert. Für alle ihren positiven Errungenschaften und Dinge, die sie – sei es New Age oder Integrale Spiritualität – ermöglicht, so muss man auch erkennen, dass die puritanische Unterdrückung des Sexus tief in ihr eingebettet ist. Dazu muss man nicht nur jenen neuen Tantra-Massagehype beobachten, via ‚Energieübertragung‘ – und ohne Körperkontakt! – einen Orgasmus beim Empfänger hervorzubringen; der feuchte Traum eines jeden Puritaners!
Die Integrale Lebenspraxis etwa erfordert, wie jeder weiß, der es mal ausprobiert hat, letztendlich die vollkommene Selbstkontrolle. Für jeden Bereich des Seins gibt es Möglichkeiten und Techniken, um sich weiterzuentwickeln: Das all-beobachtende Auge der dauernden evolutionären Selbstoptimierung. Und obwohl ich selbst denke, dass dies ein sehr wundervolles evolutionäres Werkzeug sein kann, muss man doch auch erkennen, was für Fallstricke in diesem Ansatz liegen können, wenn man sich nicht seiner eigenen kulturellen Wurzeln bewusst ist.
Die Schwierigkeit zeigt sich etwa darin, wie die Integrale Bewegung/Lebenspraxis Sex bewertet. Auch hier wird versucht, Sex udn das Unbändige zu domestizieren, und sei es über tantrische Verfahren und/oder evolutionäre Narrative. Die Schwierigkeit liegt wie gesagt darin, dass sich ‚das rote Mem‘ – und damit auch ungezügelter Sex, ungezügelter Tanz, ungezügelte Bewegung und vor allem: Schamlosigkeit – eben nicht so einfach kontrollieren lässt. Es ist Chaos. Es ist überwältigend, und entzieht sich jeder Kontrolle. Wie soll man aber aus einer kontrollierenden ('evolutionären') Perspektive mit etwas an sich Unkontrollierbaren umgehen? Und die Antwort auf dieses Paradox finden wir auch hier wieder im protestantischen Puritanismus, nämlich, indem man dem roten Mem, also auch Sex, Chaos, Tanz und Schamlosigkeit einen evolutionär minderen Wert zurechnet und letztlich unterdrückt.
In ‚Integrale Beziehungen‘ etwa, einem Buch, dass von Ken Wilber explizit gefördert wurde, etwa schreibt der Autor über die 5 (Entwicklungs-)Stufen des Sex:
Unterdrückte Sexualität –> Ficken-> Sex haben -> Liebe machen-> Transzendenter Sex.
(Ich brauche die Stufen hier nicht weiter zu erklären; jeder der diesen Artikel bis hierhin gelesen hat, wird sich etwas unter diesen Stufen vorstellen können)
Diese Deutung und Reihenfolge legt nahe, als wäre transzendenter Sex evolutionär irgendwie fortgeschrittener als ‚Ficken‘ und das die Erlösung irgendwie mit dieser letzten Stufe des Sex kommt. Und doch weiß jeder, der einmal drei Stunden mit einem Sexualpartner, mit dem die ‚Chemie‘ stimmt, ‚gefickt‘ hat, dass sich gerade hier sehr schnell Tore zum nicht-Personalen öffnen können. Ob es sich dabei um prä- oder trans-personal handelt, hängt freilich von den geistig-emotional-physischen Kapazitäten der Ficker ab. Das heißt aber auch, dass es von einer ‚Top-down‘-Perspektive einer Person, die tatsächlich ‚integral‘ ist – also nach ihrer eigenen Definition alle vorhergehenden Stufen des Geistes integriert hat – schurzpiepegal ist, welche Art von Sex man hat, weil man über jede Form die transpersonalen Bereiche erschließen kann. Die oben genannte Hierarchie der Sexstufen, die von einer angeblichen Ebene erzeugt wurde, löst sich also auf derselben Ebene wieder auf.
Entsprechendes gilt für den in der Szene tiefsitzenden puritanischen Glauben, mit der integralen Entwicklungsstufe des Geistes gehen zwangsläufig monogame Beziehungsstrukturen einher. Auch hier gilt ein ähnliches Argument: Integration heißt immer, das Andere, das Problematische anzunehmen und nicht auszugrenzen. Dies kann aber genauso in monogamen wie z. B. in polyamoren Konzeptionen geschehen. Vor Beziehungsproblemen ist niemand gefeit, und die Frage kann nur darin bestehen, welche Art von Problem man sich selbst aussucht. Aber zu versuchen, eine ganze neue (post-postmoderne) Entwicklungsstufe auf monogame Beziehungsstrukturen engzuführen, trägt stark puritanische Züge. In vielerlei Hinsicht ist es ja gerade das polyamorische Experiment, durch das man weitere Schatten und das Unbändige aufdeckt. Das wird aber in der integralen Bewegung nicht gewollt, denn das hieße, sich dem Chaos des roten Mems hinzugeben, sprich Sexaffinität, Schamlosigkeit auf der einen Seite, aber auch Eifersucht und offenen, prä-personale Konflikte auf der anderen Seite.
(Ich will damit nicht sagen, dass Polyamorie das Beziehungs-Modell für die Postpostmoderne ist. Ich will damit nur sagen, dass Weiterentwicklung überall stattfinden kann.)
Tatsächlich liegt meines Erachtens wahre Integration eben in der Affirmierung des Unbändigen, und zwar mit allem, was dazu gehört. Womöglich wäre hier eine Redewendung Carlos Castanedas nützlich, die wir in der Lehre Don Juans erfahren, nämlich die ‚kontrollierte Torheit‘. Erst wenn die Torheit des Unbändigen wirklich zur Fülle ausgeschöpft werden kann, erst dann kann man von einer wirklichen Integration von geistiger und physischer Leuchtkraft sprechen.
Aber das heißt eben auch: Tor sein zu können, und nicht nur: das Tor-Sein zu kontrollieren. In diesem Paradox zeigt sich insofern soziale Schamlosigkeit und private Offenheit für alles Sexuelle und Animalische, während gleichermaßen, um ein anderes geflügelte Wort zu gebrauchen – alles ‚bezeugt‘ werden kann. Dies ist kontrollierte Torheit!
Wir befinden uns kulturell in dem Versuch, eine neue post-postmoderne Entwicklungsstufe zu zelebrieren. Doch zuviel protestantische Wertrelikte, zuviel Verklemmung können da hinderlich sein. Letztendlich wird sich diese Entwicklungsstufe auch daran bemessen lassen müssen, wie es mit den früheren Entwicklungsstufen, und damit eben auch mit dem Unbändigen, umgeht; ob ein Gleichgewicht des Geistigen und Physischen erlangt werden kann; und ob alle Formen des Liebens, des Sex, des Tanzens affimiert und angestrebt werden können.
Das dies offensichtlich nicht der Status Quo der Dinge ist, wird bei entsprechenden Seminaren, Tagungen und Konferenzen deutlich. Tanz wird zwar gefördert, doch nur als Abendveranstaltung. Über Sex wird gar nicht gesprochen, und der Tag besteht in dem Vollzug letztendlich hochpuritanischer Ideale. Man sollte es eigentlich umgekehrt machen: Nämlich die Events mit einer großen Fête und sexuellen Gruppenritualen beginnen. Dies wäre dann der Vollzug eines post-postmodernen Bewusstseins, und nicht ein Versuch …
(Aber auf mich hört ja niemand.)