Also, sprach der Mystagoge

In einem Moment der Klarheit erkannte der Student das Wesen all seiner Probleme, und wandte sich an den Mystiker.

Sprach so der Student: „Warum ist es so, dass ich mich im Zentrum allem wiederfinde, was geschieht, warum empfinde ich mich in der Mitte all dessen? Ja: Warum sehe ich mich dem Druck ausgesetzt, auf die Welt und ihre Ereignisse reagieren zu müssen, mal auf die eine, mal auf die andere Art. Warum bin ich in der Mitte, warum widerfahren mir Dinge, und warum sind viele der Dinge, die mir widerfahren, so erschreckender Natur? Warum dieses Design, warum diese Anordnung der Dinge? Warum diese missliche Lage, mich dem Druck des Außen immer wieder entgegenstellen zu müssen, ohne je die Möglichkeit zu haben, sagen zu können: Nein ich möchte die Freiheit haben, mich nicht mit diesem oder jenen auseinandersetzen zu müssen. Warum diese seltsame existenzielle Konstitution, die mich zum Erleben, aber auch zum Handeln zwingt?“

Also sprach der Mystiker: „Du stellst eine unsinnige Frage. Du fragt 'Warum?', also nach dem Grund. Doch es gibt nicht nur einen Grund für die Phänomene dieser Welt. Je genauer Du schaust umso mehr Gründe findest Du. Daher sind auch die Gründe für diese existenzielle Bedingung in Wirklichkeit unendlich. Doch weil ihre Zahl unendlich ist, kannst Du niemals zu einem abschließenden Urteil kommen, und daher auch niemals zu einer konkreten Handlung. Frage deshalb nicht ‚Warum?‘. Frage besser: ‚Wozu?‘

Student: „Wozu also?“

Mystiker: „Um eine amouröse Distanz zu den Dingen der Welt, mithin der Welt selbst, zu erlangen!“

Student: „Was ist das, eine amouröse Distanz?“

Mystiker: „Eine amouröse Distanz ist das, was der Pianist, wenn er ein Meister ist, seiner Partitur entgegenbringt. Er nimmt die Noten in sich auf, und seine Finger gleiten über die Tasten. Doch er denkt nicht mehr bewusst darüber nach. Er wird zu der Musik, er weiß. Er kann sich in sie fallen lassen, ihre Wendungen und Wandlungen, ihre Höhen und Tiefen, er vermag all die Emotionen und Gefühle in sich aufzunehmen und abgeben zu können --- und doch ist er seltsam distanziert von all diesen Dingen. Vielleicht bezeugt er sie nur. Da ist ein Teil in ihm, der ist unberührt, und muss es sein. Er  braucht diese Distanz, denn er ist der Liebhaber der Musik. Er liebkost die Noten, zärtlich, und vielleicht ist seine  Hingabe an das Stück die perfekte Liebe. Er lässt nicht ab, umgarnt sie, streichelt sie, erreicht das Klimax und vollendet das Nachspiel. Dies ist amouröse Distanz.“

Student: "Aha, doch was hat dies mit meiner Frage zu tun, nämlich, warum ich mich dieser Bedingung ausgesetzt sehe, zu handeln und zu erleben?"

Also, sprach der Mystiker: „Du bist dieser Pianist. Aber Du bist kein Meister des Lebens. Noch gefallen Dir gewisse Themen des Lebens nicht, noch bevorzugst Du das eine Stück oder das andere, hast eine Abneigung gegen Mozart oder eine Zuneigung zu Beethoven. Dir gefallen nicht die Wendungen des Lebens, seine Höhen und Tiefen, und Du bist alles andere als ein perfekter Liebhaber. Du stellst Bedingungen an das Leben. Es soll Dir auf eine bestimmte Weise entgegenkommen. Und in diesem Verharren raubst Du Dir die Möglichkeit, all die Themen des Lebens zu erlernen, ja zu lernen, mit ihnen umzugehen. Ein Musiklehrer würde Dir sagen: Dies ist töricht, diese Vorliebe und Abneigungen gegen gewisse Stücke und Komponisten.  Trotzdem nimmst Du Dir dieses Recht heraus, töricht gegenüber dem Leben selbst zu sein. Doch dies ist der einzige Sinn, nämlich amouröse Distanz zum Leben aufzubauen. Deshalb musst Du Dich immer wieder mit der Existenz auseinandersetzen. Es zu liebkosen, im Leben zu verweilen, während ein Teil der Geistes so seltsam indifferent bleibt.“

Student: „Aber wie kannst Du sagen, dass dies der einzige Sinn ist.“

Mystiker: „Selbst wenn es einen anderen Sinn gibt – und bestimmt gibt es den – so ist dieser doch der Erstrebenswerteste: Willst Du nicht der Liebhaber der Welt sein?“

Tom Amarque2 Comments