A Renegate History of the United States

Dies ist eines der Bücher, die einem den Schleier vor den Augen wegziehen. Plötzlich bekommt man einen Blick auf Ganze. Die neue Perspektive wirkt zunächst etwas ungewöhnlich und befremdlich, und eine innere Stimme sagt: Das kann nicht sein! Aber während der Blick langsam klar wird, erkennt man zunehmen: Ich habe es schon immer gewusst, irgendwo, und doch fehlten mir die Worte, es zu formulieren. Ja: ich traute mich nicht, dies zu denken, noch wusste ich, wie man dies hätte denken oder formulieren können!

A Regenate History von Thaddeus Russell ist zunächst ein Geschichtsbuch, wenn dies meint: Es bietet einen neuen Blick auf die Geschichte der Vereinigten Staaten, und damit auf uns, wir kleinen amerikanisierten Deutschen. Und doch ist es viel mehr als das. Es ist ein Affront gegen heuchlerischen, hysterischen Feminismus wie gegen die derzeitige Rassenpolitik Amerikas, ein Maulvoll Spucke, wie Henry Miller sagen würde, ins Gesicht des verführerischen Kapitalismus.

Es räumt zunächst mit der Tatsache auf, dass es nicht (nur) die großen Männer waren, die Amerika - und damit uns - geformt haben - sondern die renegates: die Huren, Diebe, Kriminellen, Sklaven ... "the scum of the society", wie Russell es so charmant formuliert. Sein Buch unterläuft das Diszplinierungsprojekt der protestantischen Ethik, welches wir alle seit Kindestagen kennen, und das vielleicht in Amerika am deutlichsten in Erscheinung tritt, und da heißt: Viel Arbeit, und Sex am besten nur in der monogamen Kernfamilie. Russell argumentiert damit auf dieselbe Weise wie Max Weber und Fouccault. Russell aber ist Geschichtsprofessor und liefert damit Daten und Quellen und Geschichten und Anekdoten, die zeigen und zeigen und zeigen, das unser Bild von der Geschichte Amerikas, wie es von der protestantischen Elite fabriziert wird, nicht der Wirklichkeit entspricht.

Industrialisierung und Kapitalismus können nur funktionieren, wenn Sex, Trieb, Spaß und animalische Impulse systematisch unterdrückt werden. Und dieses Schisma zwischen Unterdrückung und Unterdrücktem zeigt sich am deutlichsten in der amerikanischen Rassenpolitik. Doch nicht nur da: Die Huren, so zeigt er, waren die Vorreiter des Feminismus. Die italienische Mafia ermöglichte Jazz und die LGTB-Bewegung. Martin Luther King verabscheute Jazz, Tanz und Sex vor und außerhalb der Ehe - er wollte nicht, dass sie Schwarzen akzeptiert wurden; er wollte, dass sie von der weißen Gesellschaft assimiliert wurden, weil sie sich der Ethik der Weißen anpassten. Und es wird noch unfassbarer:

Weiße Frauen, so zeigt er, wurden zur Zeit der Sklaverei häufiger vergewaltigt als schwarze Sklavinnen. Sklaven wurden weniger ausgepeitscht und bestraft als weiße Kinder, Jugendliche, Delinquenten und Frauen, die Opfer der 'weißen' Ethik des corporate punsishment waren. ('Weiße' Pädagogik lautete "to whip and pray and pray and whip") Überhaupt musste Sklaven weitaus weniger arbeiten als die "guten", weißen, protestantischen und 'freien' Männer und Frauen. Sie standen nämlich nicht unter dem Diktat der Industrialisierung und des aufkommenden Kapitalismus, dass in Wirklichkeit Sklaven aus uns allen macht. In der Tat lehnten die meisten schwarzen Sklaven ihre 'Befreiung' durch Lincoln ab und wollten zurück zu ihrem 'Master', weil die Arbeitsethik von ihnen verlangte, für weniger mehr zu arbeiten als je zuvor ... und ja, die 'Weißen' waren neidisch und eifersüchtig auf die Schwarzen, weil diese sexuell freier waren; Wilhelm Reich und seine Analyse des Faschismus lassen grüßen.

Weil Russell auf diese Weise zu einem informierten Bild der Geschichte kommt, kann er auf eine Weise Feminusmus affimieren, kann sich gegen Sexismus und die derzeitige Rassenpolitik stellen und kann die Fallstricke der Industrialisierung aufdecken, wie ich es noch bei keinem anderen Autor gelesen habe. Alle anderen, so wird mir klar, versuchen es nur. Hier haben wir jemanden, der durch und durch feminstisch ist, dem der Feminismus durch die Adern dringt, weil er versteht. Dies zeigt mir erneut, dass man tatsächlich nur dann authentisch eine Haltung einehmen kann, wenn diese Haltung durch Tatsachen, und nicht durch Meinungen, informiert ist. Wissen befreit.

Viel mehr als die tausenden Quellen, die Russell erwähnt, überzeugt mich daher diese persönlich Haltung. Hier fehlt jede feministische Hysterie, die man so gerne im Berliner Intellektuellenviertel zu spüren bekommt, wenn man mal ein "*innen" vergißt. Er zeigt, dass diese #Aufschrei-Kultur paradoxerweise auch ein Relikt der protestantischen Unterdrückung des Sexus ist. Kümmert euch doch bitte mal um eure eigenen psychologischen Probleme, anstatt euch wegen eines Plakates aufzuregen, auf dem ein Nakedei zu sehen ist. Denn nur wenn ihr wirklich versteht, warum es da hängt, warum hier Kapitalismus und Sex auf so sonderbare Weise vermengt werden, dann versteht ihr auch, dass es da nichts gibt, worum man sich persönlich aufregen muss.

Tom AmarqueComment