Mimesis und die AfD
Wir sind Menschen, die natürlicherweise das Verhalten der Anderen kopieren. Neuerdings sprechen wir häufig von 'Spiegelneuronen', aber schon Mitte der Siebziger hatte der Philosoph Rene Girard den Begriff der Mimetik und des mimetischen Begehrens - also der Nachahmung - eingeführt, durch den er erklärte, wie wir Menschen uns sozialisieren und Gruppenzusammenhalt entsteht. Das kann in negativer Hinsicht geschehen, etwa wenn wir ein Objekt begehren, weil es durch das Begehren des Anderen/der Anderen begehrenswert wird, und es somit zu Konflikt, Eifersucht, Streit und Kampf kommt. Oder in positiver Hinsicht, indem wir bestimmte Lebenspraxen oder Weltkonstruktionen annehmen, weil wir sie eben als soziale Realität akeptieren.
In vielerlei Hinsicht halte ich dieses natürliche Phänomen und diese menschliche Eigenschaft für ganz wichtig, wenn wir uns dem Öffentlichen und dem Poltischen unserer Tage zuwenden. Wir bewerten die AfD, Trump, Erdogan, etc gerne als Ausnahmen von der Regeln, als Anomalien, als etwas, was unserem demokratischen Grundverständnis entgegensteht. Grenzen wir uns von diesen Bewegungen jedoch unter der Differenz "Wir vs die Anderen" ab, versagen wir uns die Möglichkeiten, wirklich zu verstehen, wozu diese rechts-nationalen Bewegungen entstehen und welche Funktion sie gesamtgesellschaftlich haben. Um ihre Funktion zu verstehen, müssen wir eine ganzheitlichere oder monistischere Perspektive einnehmen, nämlich die der Zusammengehörigkeit aller Phänomene.
Das mimetische Argument ist dabei denkbar einfach: Natürlich sind diese politisch-nationalen Bewegungen Teil unserer Gesellschaft --- und haben damit eine Funktion. Hätten sie es nicht, würden sie schlicht nicht auftreten. Tatsächlich - und dies ist ganz wichtig - entstehen solche rechts-nationalen Bewegungen nur im Kontext pluralistischer gesellschaftlicher Entwicklungen. Worin also liegt diese Funktion? Das Kernanliegen der Rechten liegt darin, Identität durch Abgrenzung zu schaffen. "Wir Deutschen vs Migranten"; "Wir Amerikaner vs Mexikaner (und Migranten)" etc, was im Falle der U.S.A. besonders absurd ist, weil die U.S.A. ein Land ist, dass überhaupt nur durch Immigration geboren wurde. Ihr Ziel - das Ziel der Rechten - ist Identitätsstiftung selbst, und zwar durch Rückbezug auf quasi-nationale Werte.
Die eigentliche mimetische Funktion der AfD in Deutschland liegt darin, die Gesamtgesellschaft zur Nachahmung zu verführen. Jedoch nicht - und dies ist ganz wesentlich! -, um sich gegen Migranten abzugrenzen, sondern gegenüber der AfD selbst. Bundesdeutsche, plurale Identität wird gestiftet, indem wir uns auf dieselbe Weise von der AfD abgrenzen können, wie sich die AfD von den Migranten abgrenzt. Das wesentliche Element - man könnte auch sagen das Narrativ oder Mem der Nachahmung - das von der AfD zu der Gesamtgesellschaft überspringt, lautet 'Identitätsstifung durch Abgrenzung'. Nur dadurch, dass wir uns von der AfD abgrenzen können, nur dadurch, dass wir ihr Verhalten systemisch (aber nicht inhaltlich!) kopieren, können wir uns als pluralistische Gesellschaft behaupten und identifizieren. In gewisser Hinsicht bietet sie die Lösung für die kulturellen Verändungen (wie etwa Flüchtlingsströme), nämlich indem wir uns von nationalistischen Werte abgrenzen müssen. Nur dadurch, dass wir das Verhalten der AfD kopieren und auf sie selbst anwenden, können wir uns als weltoffene Bürger verstehen.
Mimesis heißt Nachahmung, Mimesis führt immer zur Gruppenkohärenz, zum Zusammenhalt. Die AfD liefert hier in Deutschland einen notwenigen Dienst, um als welt-offene Kultur bestehen zu können. Sie liefert uns genau die Hinweise, die wir benötigen, um den gesellschaftlichen Wandel bewältigen zu können, denn ohne Abgrenzung (von nationalistischen Werten) ist dies unmöglich. Dasselbe gilt für die rechts-nationalen Bewegungen in Amerika, Frankreich, der Türkei. Die Gesellschaft ist immer ein Gesamtsystem, und erst, wenn wir beginnen, diese rechts-nationalen Bewegungen nicht als Anomalien zu sehen sondern als als notweniges Konstitut der Gesamtgesellschaft, können wir angemessen mit solchen Phänomen umgehen.