Ein Beitrag zu der Guru-Frage
Der Guru, als soziale Rolle und Phänomen, ist viele tausend Jahre alt. Diese Rolle ist entstanden, als die Menschen in das mythische Zeitalter ihrer Entwicklung eintraten, einer Entwicklungsphase, in der – das muss man betonen – die Menschen noch an Geister, Engel und Götter glaub(t)en. Ich erwähne das ganz bewusst, denn ich denke, darin liegt ein essenzieller Zusammenhang, der in der bisherigen Debatte darum, welche Eigenschaften ein spiritueller Guru heute haben kann oder soll, oder ob es die Figur des Gurus überhaupt noch braucht, noch nicht beachtet wurde. Meine Antwort auf diese letzte Frage möchte ich hier vorwegnehmen: Ja, der spirituelle Aspirant braucht auch heute noch einen Guru. Nur anders, als man denkt.
Ich möchte eigentlich gar nicht so sehr auf die soziale Komponente dieser Frage eingehen, und damit verbunden: Sollen etwa Wachstums- oder Statushierarchien vorherrschen, was ist Macht oder was genau ist die Funktion des Gurus. Ich denke, diese Fragen sind inzwischen hinreichend beantwortet worden. Was klar ist, ist, dass die Rolle des Gurus, wenn unverändert übernommen, für unsere Zeit und Anforderungen unpassend ist.
Der argumentative Weg, den ich stattdessen einschlage, ist folgender: Aus der Psychologie und Kulturgeschichte wissen wir heute, dass das, was die Menschen auf der mythischen Stufe ihrer Geistes- und Kulturentwicklung als Geister, Engel und Götter begriffen, im Wesentlichen psychologische Komponenten sind. Man nenne sie heute und je nach System ‚innere Stimmen‘, ‚Archetypen‘, oder ‚Teilselbste‘. Irgendwann in der Entwicklungsgeschichte wurden diese nach außen projizierten ‚Wesen‘ integriert, eben als psychologische Faktoren oder Archetypen. Es war aber Kennzeichen dieser mythischen Entwicklungsstufe, dass bestimmte Stimmen eben nicht integriert werden … zuletzt wurde diese Tatsache in der populären Serie ‚Westworld‘ thematisiert, die auf der Theorie des Psychologen Julian Jaynes basiert, dass der Geist des prä-modernen Menschen einer Art zwei-Kammer System glich, und die eigenen Gedanken nach außen als anweisende Stimmen projiziert wurde, die einem passiven ‚Ich‘ Befehle erteilten. Erst nach und nach harmonisierten sich die beiden Hirn-Hälften, und die Stimmen wurden als etwas Eigenes wahrgenommen.
Auch die Figur des Gurus ist letztendlich eine soziale Projektion einer eigentlich psychologischen Komponente, eine Komponente, die offenbar auch heute noch nicht vollständig integriert wurde – ansonsten würde man sich in der Diskussion nicht ausschließlich auf die soziale Rolle konzentrieren. Letztendlich gilt dies ja nicht nur für die soziale Figur des Gurus. Soziale Rollen und Teilselbste konvergieren, weshalb man eben an seinem sozialen Umfeld sehen kann, welche Teilselbste man selbst präferiert. Wie dem aber auch sei, was mir fehlt in der Diskussion um die Rolle oder Figur des Gurus ist, dass es sich ja auch um ein Teilselbst oder eine innere Stimme handelt, die eben dieselbe Funktion ausüben kann wie der soziale Guru. Einigen Lesern wird jetzt der Spruch vom ‚Das Selbst ist der Guru!“ einfallen, und auch dazu möchte ich sagen: Ja, aber anders! Wie genau meine ich das?
Geschichtlich betrachtet finden wir eigentlich in allen Weisheitstraditionen (abgesehen vom Hinduismus, wo die rein soziale Figur des Gurus prominent wurde) Hinweise auf diese Guru-Funktion. Die Figur des Gurus zeichnet sich dabei ja vor allem anderen dadurch aus, dass er aus einer ‚höheren‘ (entwicklungsmäßigen) Position heraus handelt, um den Menschen oder Aspiranten den Weg zur Erleuchtung, Vervollkommnung, oder einfach Gott zu ermöglichen. Das heißt, für den Menschen ist er ein Mittler und ‚Facilitator‘. Er stellt auf die Probe und ermöglicht Wachstum. Er legt Potenziale frei. Für den Menschen selbst ist er nicht ‚Gott‘ - wenn ‚Gott‘ jetzt einfach eine Glyphe für die höchste Entwicklungsstufe und All-Bewusstsein steht. Er – der Guru – steht zwischen Gott und Mensch, nicht im grobstofflichen Bereich, nicht im non-dualen Bereich, sondern ‚Dazwischen‘. Er ist der Bodhisatva, der – nimmt man die exoterische Fassung, zwar schon ‚gestorben‘ ist (also sein Ego ist gestorben), aber noch nicht ins Nirvana eingetreten ist … auch hier ‚Nirvana‘ als eine Glyphe für ‚Gott‘. Und eben abgesehen vom Hinduismus, wo die soziale Figur des Gurus prominent wurde, finden wir in jeder Weisheitstradition eine Form, die diese Rolle einnahm, nämlich persönliche Schutzgeister und Schutzengel.
Im römischen Bereich finden wir den Genius, der als Schutzgott zwischen Mensch und Gott stand und sein Schicksal lenkte. Bei den Griechen war es der Daimon, der eben als Mittler diente, und, wie der Genius auch, den Menschen mit bestimmten Gaben, Neigungen, Talenten und Berufungen auf dem Weg der Reifung und des Wachstums ausstattete. Im Islam finden wir den Mu'aqqibat, der, wie der christliche Schutzengel (manchmal auch ‚Heiliger Schutzengel‘ genannt), über das Schicksal des Menschen wacht. Gerade im Christentum finden sich in der Bibel ausreichend Hinweise auf diese Figur. Dasselbe gilt für den Zoroastrismus, wo die entsprechende Figur Arda Fravaš ist.
Bemerkenswerterweise tritt diese Figur, dieser mythische Engel oder Schutzgeist, in allen Traditionen auf, mit stets denselben Eigenschaften (auf die ich hier nicht ausschweifend eingehe, die aber klar mit denen der sozialen Figur des Gurus konvergieren). Gehen wir davon aus, dass es keine externe Figur wie ein ‚Engel‘ ist, sondern eher eine psychische, können wir uns den Eigenschaften zuwenden und versuchen, diese Stimme, die uns führt, beschützt und uns mit Talenten und einem Willen ausstattet, zu integrieren.
Tatsächlich ist dieser Daimon – ich präferiere den Begriff, weil er relativ unbelastet ist – ein psychisch-kausaler Archetypus, den wir lernen können genauso zu integrieren wie ‚das innere Kind‘, das ‚Eltern-Ich‘, den ‚Kritiker‘, den ‚Beschützer‘, oder was es auch für Teilselbste gibt. Einige dieser Teilselbste sind klar prärational. Der eigentliche Ursprung des Daimons ist aber sowohl kausal als auch transrational, denn diese Stimme vermag uns den Weg und den Willen zu unserer Entwicklung zu zeigen, und wirkt formbildend sowohl für den subtilen als auch grobstofflichen Bereich.
Tatsächlich denke ich, dass niemand besser über den Weg unserer Entwicklung ‚Bescheid‘ weiß, als dieses Höhere Selbst, dieser Daimon. Der Guru kann historisch und sozial deshalb nur Bedeutung entwickeln – kann deshalb nur mit Bedeutung aufgeladen werden – wenn wir auf ihn unsere eigene Qualität oder Teilselbst des Daimons oder Bodhisattvas projizieren. Wenn wir an ihn glauben … nur dadurch bekommt er seine Macht und seinen Einfluss. Sobald wir uns dessen aber klar sind, können wir durch geführte Meditationen, Voice Dialog o.ä. ‚Kontakt‘ zu dieser inneren Stimme aufnehmen, und können uns durch den Daimon leiten lassen, wie wir uns früher durch den Guru haben leiten lassen.