Wurzel - Wille - Wirklichkeit
Was bedeutet es eigentlich, wenn wir von unserem ‚inneren Kind‘ sprechen? Oder, wenn wir uns in einen introspektiven, ja meditativen Zustand begeben, und mit unserem inneren Kind sprechen können? Oder mit unserer inneren ‚Vaterstimme‘, oder dem ‚Kontrolleur‘, dem ‚Perfektionisten‘ etc.? Was geschieht da eigentlich genau, wenn wir zu diesen ‚Teilselbsten‘ oder 'inneren Stimmen' Kontakt aufnehmen?
Natürlich handelt es sich einerseits um Erfahrungsbündel und historisch gewachsene Zustände … ich war einmal Kind, ich imitiere als Kind auch meine Eltern, lernte mich zu kontrollieren etc. Aber die Begriffe ‚Zustand‘, ‚innere Stimme‘ oder ‚Teilselbst‘ sind ja nur ein unzureichende Beschreibungsbilder für die Erfahrung, die ich habe, wenn ich mich meinem inneren Kind zuwende, wenn ICH ES BIN. Diese Begriffe wirken auf mich zu statisch und repräsentieren nicht die fließende Erfahrung, die ich habe, wenn ich in diesen Zustand hineinkomme und die Welt aus seinen Augen erlebe.
Ich möchte stattdessen das Bild von einem Rhizom verwenden – das Guattarische/Deleuzische Bild eines Wurzelgeflechtes – man denke z. B. an die rhizomatische Architektur eines Ameisenbaus oder eine Ingwer-Wurzel – um unser psychisches Innenleben zu charakterisieren. Jedes Erfahrungsbündel oder Teilselbst repräsentiert in diesem Bild dabei einen Knoten, der durch Internodien mit anderen Knoten verbunden ist. Wir können zum Beispiel über solche Internodien aus unserem Jetztzustand direkt den Knoten des Kindheits-Ichs ‚anwählen‘. Ganz einfach. Wir bemerken dabei die Translation nur in dem Maße, in dem wir auf (innerpsychische) Widerstände stoßen, also wenn wir z. B. ‚blockiert‘ sind und deshalb keinen Kontakt zum inneren Kindheits-Ich herstellen können.
Die Metapher des Rhizoms ist insofern so verführerisch, weil wir prinzipiell solche Internodien von jedem Knoten aus zu jedem anderen Knoten anlegen können. Wenn wir in einem Knoten angekommen sind, so erleben wir die Welt, wie sie sich in Form des Knotens gebildet hat. Diese Welt ist immer ein vollständiger Raum – Sloterdijk würde hier sagen: Spähre –, mit seinen eigenen Weltansichten, Fähigkeiten, Rollen, Perspektiven etc.
Bleiben wir einen Moment bei der Metapher. Alles, was wir psychologisch tun in unserem Leben ist, diese Knoten/Internodien anzuwählen, sie auszubauen, und neue Knoten zu bilden. Wir wandeln zwischen den ‚Ich-Zuständen‘. Was wäre also, wenn unseren Psyche ‚in Wirklichkeit‘ rhizomatisch‘ angelegt ist? All dies ist spekulativ, wer weiß schon, was die Psyche ‚ist‘? Aber es macht Freude, mit dem Bild zu spielen, und letztlich haben wir, die Domäne des Geistes betreffend, nichts anderes als Bilder, um den Geist selbst zu beschreiben.
Interessant wird diese Metapher, wenn wir uns der Bildung neuer Knoten zuwenden. Etwa, wenn wir neue Fähigkeiten erlernen und damit neue Welten ausformen, sei es sozial, materiell, psychisch. Etwa, wenn ich beginne, das Tanzen zu erlernen, in eine Tanzschule gehe, neue Leute kennenlerne, neue Verhaltensweisen, neue Techniken erlerne. Je länger ist übe, umso stabiler wird der Knoten. Wenn wir einmal einen solchen Knoten ausgebildet haben, können wir ihn immer wieder anwählen. Solche Knoten sind immer ganze Welten, und bilden eine Einheit von Psyche, Sozialem und Materiellem. Was ist, wenn die Welt als solche rhizomatisch angelegt ist?
Stellen wir uns jetzt mal ein paar rein ‚spirituelle‘ solch rhizomatischer Knoten vor. Beispielsweise den Zustand des Samadhi. Es ist klar, dass es nicht ganz einfach ist, diesen Knoten auszuformen. Die Konzentrationsmeditation z. B., die zum Samadhi führen kann, entspräche in diesem Bild dann der Translation in dem Internodium des Geistes selbst. Erfahrungsgemäß ist es dann so, dass sobald wir zumindest eine Gipfelerfahrung haben, die zur Bildung dieses Knoten führt, wir sukzessiv immer leichter diesen Knoten in der Meditation anwählen können, und zwar bis zu dem Punkt, wo es nur noch eine Entscheidung ist, ein ‚Trick‘. Die Translation geschieht dann unbemerkt: Wir sind Meister des Samadhi geworden. Dasselbe gilt auch für den Knoten des ‚Big-Mind‘. Genpo Roshi zeigte, wie es durch geführte Meditation ganz leicht ist, durch die Internodien zu dem Knoten des Big Mind zu gehen. Roshi selbst wirkte dann als Facilitator der Translation.
Warum, so stellt sich nun die Frage, bilden wir im Verlaufe unseres Lebens bestimmte Knoten und Internodien aus, die sich in ihrer Erscheinung vollkommen von der Architektur einer anderen Psyche unterscheiden? Sicher gibt es dafür einige bekannte Gründe, wie etwa Sozialisation. Ein anderer ist unserer Wille. Die Frage, die sich daraufhin stellt: Wenn wir eh nur zwischen Internodien und Wurzeln hin und herreisen, was sollen wir dann wollen, was können wir dann wollen? Eine Antwort auf diese Frage kann jener ‚Knoten‘ bieten, den man den Daimon [griech. für Genius] nennt. Also jene Instanz des Geistes, der vitale Informationen über den Willen selbst liefern kann.
Man erinnere sich daran, das dass Wort ‚Talent‘ aus dem alt-französichen des 13. Jahrhunderts stammt, und damals Neigung, Anlage, Wille und Bedürfnis bezeichnete. Talent ist das, was den Daimon ausmacht, die Gabe, die er in der altgriechischen Philosophie von den Göttern den Menschen übermittelte; selbst im Christentum ist diese Vorstellung überliefert in dem Begriff ‚Be-Ruf‘, ausgeweitet in der Vorstellung der ‚Be-Rufung‘, also etwas, was über die mechanische Arbeit hinausgeht und dem innersten Wesen des Menschen und seiner Passion entspringt. In diesem Sinne ist es unser Talent – also unsere Neigungen, unser Wille – durch den wir durch das rhizomatische Geflecht unserer Psyche reisen.
Wir können, wenn wir unsere Berufung, unser Talent und unseren eigentlichen Willen – also den, der jenseits von den konditionierten Bereich von Verhalten liegt – kennenlernen wollen, den Knoten und die Erfahrungswirklichkeit des Daimons anwöhlen, um dieses Weltwissen zu erzeugen, und zwar auf ähnliche Weise, wie wir uns auch im ‚inneren Kind‘ oder ‚Big Mind‘ zuwenden können. Er kann uns ‚sagen‘, welche Knoten wir ausformen wollen. Eine Technik, um den Knoten des Daimons selbst auszuformen, nenne ich ‚Daimonotechnik‘. In diesem Moment werden wir zu bewussten Konstrukteuren unserer eigenen rhizomatisch arbeitenden Geistes.