Spiritualität in der Krise

Spiritualität begleitet uns seit Anbeginn der Menschheit, als wir begannen, erste Begräbnisrituale zu entwickeln, Tiergötter anzubeten, und in einsamen Höhlen seltsame Drogen zu uns zu nehmen.

Und wie auch die Menschheit durch bestimmte Epochen oder Entwicklungsstufen von Geist und Kultur durchschritt, verwandelte sich die Spiritualität, erlebte Krisen, und fand immer neue Ausdruckformen im Schamanismus, der Religion, dem (Natur-) Mystizismus, der Alchemie und später Esoterik und News Age. Spirituelles handeln und erleben ist tief in uns verankert, und man könnte durchaus vermuten, dass die diese Dimension unseres Handelns und Erlebens ist, die uns maßgeblich zum Menschen macht.

Doch wo stehen wir jetzt, und wohin geht unsere Reise? Um dieses große Durcheinander zumindest ein klein wenig zu ordnen, wollen wir auf eine Erkenntnis zurückgreifen, um die die Entwicklungspsychologie schon lange weiß. Wie etwa Clare Graves und auch Susanne Cook-Greuter betonten, muss man zwischen kollektiv ausgerichteten und individuell ausgerichteten Entwicklungsstufen unterscheiden, die sich einander abwechseln, also Stufen, in denen entweder eher kollektive oder individuelle Werte vorherrschen. Was nicht heißt, dass man auf einer eher individuellen Stufe, wie sie etwa die leistungsorientierte Moderne kennzeichnet, nicht auch in und als eine Gruppe handeln kann, oder in der eher kollektiv ausgerichteten Stufe der Postmoderne nicht auch individuelles Handeln findet. Es dreht sich hier nur um die Schwerpunkte und Ausrichtung der jeweiligen Wertestrukturen und Narrative. Wir erkennen diese Dialektik z.B. an dem religiösen Mittelalter, welches die neuen Vorstellungen des Individuums hervorbrachte. Man denke an den Leitspruch der Moderne: ‚Ich denke, also bin ich‘, durch die das kollektive Dogma christlicher Wertstrukturen überkommen werden und sich der Einzelne als wirkmächtige Einheit verwirklichen konnte.

Was heißt das für die Spiritualität? Es bedeutet, dass auch die Spiritualität Permutationen erfährt und sich immer wieder durch eher kollektive und individuelle Stufen hindurch entwickelt. Nehmen wir die kollektiv ausgerichtete spirituelle Postmoderne, mit ihren Sanghas und Communities, geboren aus der Hippiebewegung und der Lebensreform, erstmals ein globales Bewusstsein, nachhaltiges Handeln in Bezug auf Klima und Ernährung propagierend, wie es eben das Paradigma der letzten 50 Jahre war. Die ‚shared experience‘ stand hier im Vordergrund.

Und doch sind die Rituale und Narrative dieser Epoche mittlerweile erkaltet. „Man“ meditiert zwar oder macht Yoga, doch – wie es Peter Sloterdijk jüngst formulierte – der Versuch, tatsächlich jeden unabhängig seiner Charaktereigenschaft (also: bedingungslos) zu lieben, bewegt niemanden mehr. Postmoderne Spiritualität hat ihr Transzendenz-Potential verloren. Statistiken zeigen: Auch der härteste Veganer bricht in der Regel seine Ernährungsvorschriften, und trotz unseres globalen Bewusstseins scheitern wir darin, die Klimakatastrophe abzuwenden. Die Postmoderne, einst ein Leuchtfeuer neuen Bewusstseins, hat sich als nutzlos erwiesen, unsere weltlichen und spirituellen Probleme zu lösen, auf die sie einst hingewiesen hat. Der Fokus auf die gemeinsam geteilte Erfahrung hindert uns, die Probleme zu lösen, denn sie ist getrennt von der Welt; tatsächlich wurde die postmoderne Spiritualität immer von dem Vorwurf der Weltfremdheit begleitet.

Zeit also, uns neuen Horizonten zuzubewegen! Wie können wir unsere Eigenverantwortlichkeit meistern? Wie könnte eine neue ‚integralen‘ und ‚individuell‘ ausgerichteten Spiritualität nach der Postmoderne aussehen? Ein Ansatz bietet auch hier die Psychologie. Clare Graves erkannte etwa, dass die kollektiven Stufen immer ‚selbst-opfernden‘ Charakter haben, also die Unterordnung des Einzelnen unter eine neue Norm zum Wohle des Ganzen, während die individuellen Stufen immer ‚selbst-ausdrückend‘ sind und neue individuelle Erfahrungen und die Auseinandersetzung des Individuums mit dem Ungewissen betonen, welches die alten Strukturen des Ganzen transzendiert.

Meine Vermutung wäre, dass eine neue integrale Spiritualität darin besteht, diese beiden Verhaltens-Modi – denn das sind sie! – zu internalisieren. Oder, um bei Sloterdijk zu bleiben, den anthropotechnischen und kognitiven Gehalt dieser einst sozial-konditionierten Verfahren zu integrieren. Der Einzelne kann sich entweder selbst-opfernd oder selbst-ausdrückend verhalten, und dadurch Transzendenz verwirklichen. Aber dies ist keine kollektive Norm mehr, oder passiert automatisch durch Sozialisation. Es sind zwei Weisen spirituellen Verhaltens, die der Einzelne in sich selbst reproduziert und frei wählen kann. Und die jeder Einzelne anwenden kann, um sich (und die Welt) nachhaltig zu transformieren und neue Tiefen der Transzendenz zu erfahren.

Es heißt praktisch, dass jeder sich selbst-opfernd verhalten kann, ohne einer Gruppenideologie zu verfallen, wie auch das Ungewisse zu explorieren, ohne das Ganze und die Welt aus dem Blick zu verlieren.

Tatsächlich – betrachten wir diese beiden Modi als grundsätzliche Anthropotechniken des Menschen, also als kognitiv-Techniken des spirituellen Verhaltens – können wir erkennen, dass sie sich seit Äonen in unterschiedlichen Kulturformen ausgedrückt haben, wie ein Quellcode, der die einzelnen religiösen und spirituellen Formen hervorgebracht hat. Der Schamanismus zelebrierte die Unterweltreise, und die Auseinandersetzung des Einzelnen mit dem Chaos in der Höhle. Das Christentum drehte sich jedoch eher um das Selbst-Opfer (Jesus!). Der moderne Physiker – á la Heisenberg und Otto Hahn – zelebrierte Naturmystizismus auf höchster spiritueller Ebene – in der Einsamkeit seiner legendären Bergwanderungen, während die Osho-Kommune wiederum die Blaupause für die postmoderne Unterordnung unter quasi-psychologische Gruppenverfahren darstellte.

Als integriertes Individuum heute spirituell zu handeln könnte heißen, diesen Quellcode bewusst anzuwenden, heißt, sich frei zwischen Selbst-Opfer und Selbstausdruck (ich nannte es in meinem neuen Buch ‚Der Krieg der Seele‘ auch den ‚Chaoskampf‘) entscheiden zu können. Aber nicht mehr jenseits der Welt, sondern in und mit ihr. Die Lösung globaler Probleme liegt nun in der Hand des Einzelnen, und die Rettung der Welt ist ein notwendigerweise spirituelles Unterfangen. Auf diese Weise gewinnt Transzendenz wieder an Bedeutung.

Tom AmarqueComment