Lissabon

Ich weiß, warum ich hier bin, und ich weiß es nicht. Etwas scheint zu fehlen. Ich nehme mir den ersten Tag Zeit, um hier anzukommen, wandere ein wenig durch die Stadt und Alfama, das einzige ursprüngliche Viertel, was nicht durch das Feuer und den Tsunami 1755 zerstört wurde.  Die Straßen sind hier enger, überall Faro-Restaurants. Und es ist auch die erste Gegend, die dem Tourismus zum Opfer fiel. Trotzdem schön. Ich weiß nicht, was ich erwartet hatte, und doch bin ich im ersten Moment enttäuscht. Ich hatte irgendwie den Zauber von Paris erhofft, der mich überwältigt hatte, als ich 19 war, oder den von Barcelona 20 Jahre später. Ich hatte auf etwas gehofft, das mich überwältigt, das mich neu macht, und doch scheint mir die Stadt zunächst wie jede andere europäische Großstadt.

Ja, ich bin hier, um mein neues Buch zu schreiben, und um was in mir zu entdecken. Meine bekannten vier Wände verhinderten, dass die leeren Seiten sich mit Worten füllten. Um aus meinen Alltag herauszutreten und meinen gewöhnlichen ‚Headspace‘ und die Dunkelheit mit Licht zu füllen. Vielleicht einen Weg zu finden. Etwas Essentielles. Schreiben und Denken und Auswickeln gehören immer zusammen. Aber die Worte sind halbwahr, wenn ich mir versuche klarzumachen, was ich will. Etwas in mir ist taub. Und ich hoffe, durch die Tiefe und ja Dunkelheit, die diese Stadt Pessoas und die Leute kennzeichnet, etwas in mir zu erschließen, etwas zu verstehen. Etwas Neues tun zu können. Etwas Neues sein zu können. Ich bin hier, sage ich Victória später, weil ich an einem Punkt an meinem Leben bin, wo alles neu werden kann, wo ich alles tun kann. Ach den Punkt!, sagt sie wissend. Ich sehe, dass sie den Punkt tatsächlich kennt, obwohl sie mindestens zehn Jahre jünger ist.

Das Essen ist großartig, ich sitze in einem kleinen portugiesischem Restaurant um die Ecke, man sitzt an langen Tischen neben wildfremden Leuten, der Salat schmeckt besser, der Fisch köstlicher, der Rotwein reicher. Ich bin noch ein wenig verwirrt, welche Sprache ich sprechen soll, da ich kein portugiesisch spreche, aber sowohl spanisch und englisch funktionieren gut. Wider Erwarten treffe ich im Laufe des Tages einige Portugiesen, die sogar deutsch sprechen. Das Essen ist jedenfalls günstig. Denn Lissabon ist für die Künstler.

Das Zaratan ist eine kleine Kunstgalerie, an dem an diesem Abend zwei Konzerte im Rahmen eines 'Zyklus' veranstaltet werden. Das Zaratan ist Teil des ‚Kollektivs‘, und das ‚Kollektiv‘ ist so Underground, dass es noch nicht mal in den Veranstaltungskalendern erwähnt wird … eine Subkultur der Künstler. Nur sie wissen, was wo abgeht, und es gibt mehrere Kollektive, die zusammenarbeiten. Frag mich nicht, wieso ich das plötzlich weiß. Eine schwarze Tür öffnet sich, und die Gäste drängen in den alten, schwarzen Kohleraum. Der Performer trägt Adidas-Klamotten, eine Ski-Maske und einen Hut. An der Wand flimmern gefährliche Bilder. Eine Kakophonie von kreischenden Tönen und Geräuschen erfüllt den Raum, zerstört alles, invoziert Gewalt und Columbine, exorziert persönlichen Dämonen. Er schreit und kreischt und ächzt und wirbelt. Der Typ ist offensichtlich nicht ganz dicht. Ich sage ihm später höflich, es war intense, er sagt sanft, ja, er habe Probleme, ich sage, besser hier als anderswo. Danach die Gegenseite des heutigen ‚Zyklus‘, sanfter, experimental Folk, der das Trommelfell besänftigen und die kreischenden Feedback-Loops vergessen machen will; der rothaarige Brite aus Manchester ist ein Zauberer auf der Gitarre, der seinen Gesang übersteuert, weil ihm das gewisse etwas in der Stimme fehlt. Und doch hält er sein Versprechen.

Mir werden die Regeln des Kollektivs erklärt. Es sind die postmodernen Regeln á la Lissabon. Surreale Kunst und Genderfluidity und Power corrupts und Kooperation und Kollektiv vor dem Individuum. Ich kann schon damit arbeiten. Es sind überall dieselben Spiele. Valerie, eine britische Künstlerin, meint, sie glaubt nicht an biologisch bestimmtes Gender. Ich sage ihr, es ist ein bisschen komplizierter. Sie plappert nach, was sie selbst mal gehört hat. Ich kann sehen, dass sie noch nie wirklich darüber nachgedacht hat, sondern nur die soziale Meinung wiederholt.

Und doch ist er plötzlich da, der Zauber von Lissabon, hier in diesem Underground des Kollektivs. Die Spanier sind sehr extrovertiert, aber im Falle von Mallorca auch sehr konservativ und notgedrungen traditionell, um ihre Kultur von den Menschenhorden zu schützen. Auch Lissabon hat seine Menschenhorden, aber die Mentalität, so spüre ich, ist eine andere. Sie berührt mich. Wunderbare Frauen schauen mich mit großen Augen an, und in ihnen sehe ich das Versprechen der Stadt. Ich weiß, ich werde morgen schreiben können.

Tom Amarque2 Comments