Lissabon IV
Der fette Mann steht neben dem Klavier. Er wartet, in seinen Armen hält er ein Cello. Das Publikum wird ruhig. Und er beginnt. Rhythmische Striche, schneller als im Sekundentakt, immer dieselbe zwei Töne, in demselben Rhythmus. Dann: Mikroskopische Varianten, doch das Thema bleibt. 5 Minuten, 10 Minuten. 15 Minuten. 20 Minuten. Das Publikum ist gebannt. Ich bin gebannt. Warum? Warum sind wir hier zusammengekommen, warum starrt jeder auf den fetten Mann, diesen Hohepriester. Was ist es, abgesehen vom Offensichtlichen? Warum finden es Leute sinnvoll, sich hier zu versammeln und teilzuhaben? Er wirkt, als fingert er eine Frau, die unfähig zum Orgasmus ist. Als arbeitete er sich am Leben selbst ab, dass ihm nichts zurückgibt. Ja, seht, scheint er zu sagen, die stete Mühe, die wir uns machen, die steten Impulse, zu kämpfen, uns und die Welt zu verbessern, ja vielleicht: glücklich zu werden. Nach 20 Minuten verebbt die Musik, so wie das Leben irgendwann verebbt, ohne Klimax, ohne tieferen Sinn. Das Publikum bricht ist frenetischen Applaus aus. Ich auch. Dies war der erste Akt.
Der zweite Akt: 4 Musiker. Was der eine tat, der fette Mann, tun nur vier Männer gemeinsam. Sie besingen die Sinnlosigkeit der Welt in wunderschöner Weise. Ich halte das heute nicht aus, ich verlasse das Konzert.
Ich habe keine Ahnung, warum ich dieses Buch hier schreibe. Es ist nicht so, dass ich eine Leserschaft hätte. Sozial betrachtet ist es vollkommen sinnlos. Man könnte annehmen, ich sei glücklich, weil ich hier bin, neue Erfahrungen und so weiter. Aber nein, ich bin nicht glücklich. Wozu auch? Ich habe mir erneut ein Kreuz aufgespannt, welches wie ein Mandala aus Sand im Wind zergehen wird, sobald es fertig ist. Ich kann nicht anders. Ich bin Sisyphos, einmal mehr. Verurteilt dasselbe immer wieder zu tun. Ich unterwerfe mich diesem Zwang, weil Existenz sonst leer wäre. Aber schön, nein, schön ist das nicht. Es muss getan werden, dies weiß ich, und auf besondere Weise scheint mir Lissabon mit seiner eigenen dunklen Stimmung entgegen zu kommen. Weiß Gott hab ich mich gewehrt, dieses Buch zu schreiben.
Einmal mehr wandere ich in die dunkle Höhle des Drachen in der Hoffnung, das alchemistische Gold zu finden. Oder die archetypische Maid. Es sind merkwürdige Dinge, die man in den archetypischen Höhlen findet. Der Drache des Chaos ist schon an die Oberfläche gekommen, ich sehe ihn, er schenkt mir, er nimmt mir. Er ist wie ein Stier, den es niederzuringen gilt. Er weißt mir den Weg, er schnappt nach mir, das Krokodil, das Krokodil, pass auf dass es nicht zuschnappt. Er ist das Neue, dass das Alte zerstört. Er ist das kreative Chaos.