Die vier Weisen des Wollens
All dies ist natürlich selbst-erklärend: Nichts ist leichter, als sich mit den Umständen abzufinden, in denen man sich befindet, und nichts zu verändern. Man muss das Gegebene nur hinnehmen als Gegebenes, und tun, was immer man auch getan hat. Vermutlich lebt ein Großteil der Menschen nach diesem Paradigma; man muss sich nicht verändern, man muss nichts tun. Wir können zwar sagen, dass – von einem darwinistischen Standpunkt – das Individuum stets versucht, sich einer konstant verändernden Umwelt anzupassen: Schritt zu halten mit den Veränderungen und Komplexitäten der sozialen und natürlichen Umwelt; doch der Mensch kann auch einfach versuchen, die Mauern seiner Persönlichkeit und seines Weltverständnisses so zu stabilisieren, dass die von ihm errichteten Dämme vor den Unwägbarkeiten und den gefährlichen Neuheiten der Welt schützen. Und einmal errichtet bedarf es nicht notwendigerweise Veränderung. Man mag sich bestenfalls mit dem Gefühl der Resignation und des Unmutes abfinden, und dies ist sicher immer eine Möglichkeit. Aber es hat nichts mit Wille zu tun, der entweder aus Freiheit entspringt, oder aus der Notwenigkeit, ein Problem zu lösen. Hinzu kommt, dass alle Formen von Dämmen und Mauern früher oder später brechen – besser also, sich mit den Weisen des Wollens auseinanderzusetzen.
Was heißt es also zu wollen? Eine einfache Annäherung wäre die Ausgangsbeobachtung, dass unser Verständnis und unser So-Sein von Selbst und Welt geformte und stabile Strukturen sind, die wir aus dem uns umgebenen Chaos im Laufe unseres Lebens erzeugt haben. Unsere Persönlichkeit ist immer das Resultat all unser Entscheidungen, die, konfrontiert mit uns selbst und der Umwelt, selbst unserer Interpretation und Bewertung unterliegen. Was wir von der Welt lernen, lernen wir, weil wir mit ihr interagieren. Wille ist dann nichts anderes als das Mittel, Ordnung aus dem Chaos zu erzeugen, in dem wir uns an die Grenzen des Bekannten annähern und überschreiten, um das, was vorher unbekannt, ungeordnet und chaotisch war zu ordnen - und damit neue Strukturen auszuformen. Da dieser unser Wille immer zwischen uns Selbst und der Welt, aber auch immer zwischen Ordnung und Chaos vermittelt, können wir mehrere Weisen unterscheiden, inwiefern der Wille diese Spannungen zu lösen vermag.
Freilich ist heute eine sehr gängige Vorstellung, sich selbst zu verändern, das heißt neue Kenntnisse, Fähigkeiten und Fertigkeiten erwerben, um nicht nur dem Druck der komplexen Umwelt etwas entgegensetzen zu können, sondern ihr sogar – in Form eines konkreten Willens – seinen Stempel aufzudrücken. Das Credo: Ich will! Und das erste Werkzeug dieses Willens ist die Selbstveränderung und Selbsterweiterung. Nichts einfacher als das! Man lernt dies auch schlicht Lernen.
Zuweilen aber sind ausreichend Kenntnisse, Fähigkeiten und Fertigkeiten vorhanden, um eine Veränderung von Selbst und Welt vorzunehmen, ja um zu wollen, aber das soziale Umfeld ist unpassend und bietet keinen Nährboden, auf dem der Same des Willens Früchte tragen kann. Zuweilen ist es schwer zu sehen und zu akzeptieren, dass es nicht die eigenen Fähigkeiten sind, die Veränderung bedürfen, sondern das Umfeld selbst verändert werden muss. Ein Pianist mag Mozart spielen wollen, doch allein im Urwald ohne sein Instrument wird sein wollen nutzlos sein. Ebenso unfruchtbar mag es sein, zu versuchen, über die Feinheiten der heidegger‘schen Philosophie mit einer traditionell-religiosen bayerischen Familie zu diskutieren. Die Schwierigkeit liegt zuweilen darin zu erkennen, wann man sich selbst verändern soll, und wann sein soziales Umfeld. Zuweilen gehen diese Ansätze auch ineinander über, wenn man gewisse innere Wandlungen vornehmen muss, um das soziale Umfeld tatsächlich verlassen und ein Neues aufsuchen zu können.
Ich will diese ersten beiden Weisen des Wollens ‚lokale‘ Weisen nennen, weil sie im ‚Hier und Jetzt‘ anwendbar sind, und von praktisch jedem. Es gehört nur ein bisschen Menschenverstand dazu, zu lernen und zu unterscheiden, wann und wie man sich selbst verändern kann oder wann man sein Umfeld verändert, um seinen Willen zu verwirklichen.
Nun gibt es einen dritten Weg des Willens, der nicht unbedingt etwas mit dem ‚Hier und Jetzt‘ zu tun hat, sondern der tiefer in die nicht-lokalen oder 'kausalen' Bereiche eindringt, in denen die einfachen Unterscheidungen zwischen Selbst und Welt nicht mehr so einfach funktionieren oder überhaupt nützlich sind. Es ist dies ein Wille, der in die nicht-lokalen Bereiche der Selbst- und Weltkonstruktion eintauchen kann, um hier sein Potenzial zu entfalten. Eine von Heideggers Vorstellungen und Ideen lag ja darin, die altgedienten Vorstellungen der Trennung von Selbst und Welt in eine Weise des ‚In-der-Welt-Sein‘ zu transformieren. Hier verschmelzen gewissermaßen Bewusstsein und Welt im Akte des Handelns. Man stelle sich vor, man könnte dieses SO-SEIN in/mit der Welt grundlegend verändern – oder die grundlegende Weise des ‚In-der-Welt-Seins‘. Man könnte diesen Ansatz auch in eher entwicklungspsychologischen Termini: 'konstrukt-bewusstes' Wollen nennen.
Aber dies sind eitle Worte. Einfach gesprochen: Man denke sich Ereignisse als sowohl der Welt als auch dem Bewusstsein zugehörend; und man stelle sich sodann eine Hierarchie von Ereignissen vor, in der manche Ereignisse naturgemäß über mehr Potenzial als andere verfügen, das Selbst und die Welt zu verändern und den Kurs einer Lebensphase oder gar des gesamten Lebens zu bestimmen. Dieser ‚konstrukt-bewusste‘ Wille sei nun fähig, bestimmte Ereignisse zu erzeugen und einzusetzen, die über die Macht verfügen, dass ganze Gefüge der Welt- und Selbstkonstruktion – oder besser: den Strom der Ereignisse auf einer niedrigeren Hierarchie-Ebene – zu verändern, und infolgedessen das, was wir auf einer lokaleren Ebene dem Selbst und der Welt erfahren. Vielen Lesern mag dieser dritte Weg insofern bekannt vorkommen, wenn er sich mehr oder weniger durch Zufall einstellt, und ohne Einfluss des Individuums. Man mag dann eine Intuition haben, dass ein gerade geschehenes Ereignis höherer Rangordnung eingetreten ist: Man ist sich über seine Bedeutung bewusst und kann mehr oder weniger die Permutationen abschätzen, die dies für die Ereignis-Ströme auf niederer Hierarchie-Ebene haben wird.
Der vierte Weg des Willens – der heilige Weg – ist natürlich der des Buddha. Er besteht in Nicht-Bindung, Indifferenz und Dekonstruktion: In dem reinen nondualen Bewusstsein gibt es weder Problem noch Anlass zur Problemlösung. Ein Weg zu diesem Bewusstsein liegt immer darin, die Selbst/Weltstrukturen derart tief zu dekonstruieren, dass nichts als einem Zeugen übrigbleibt, der – selbst formlos – die Leere und Formlosigkeit in einer Art chymischen Hochzeit bezeugt. Es ist, mit anderen Worten, immer ein probater Weg des Willens, zu einer Erfüllung zu kommen, in denen die Architekturen, die zum Willen selbst geführt, dekonstruiert werden. „Ich habe Geldsorgen“ kann dekonstruiert in das Begreifen und die Verwirklichung von: „Es gibt kein Ich“, „Es gibt kein Haben“, „Es gibt kein Geld“, „Es gibt keine Sorgen“. Neti Neti.
Die Kunst des Wollens liegt freilich darin zu wissen, wann man welches Werkzeug des Willens anwenden kann und sollte. Überdies ist es gut zu wissen, dass es mehrere Weisen des Wollens gibt. Und wiewohl jede Weise selbst gewisse Kenntnisse und Fähigkeiten und Fertigkeiten erfordert – wer kann das Selbst oder die Welt oder die Trennung von Selbst/Welt schon vollständig und auf Fingerschnippen dekonstruieren? – kann allein das Wissen um diese Weisen schon Veränderung in seinem Ansatz zum Leben hervorrufen.